Heute habe ich gelernt, was ein Überfall ist oder genauer, was ein Überfall nicht ist. Ein einstmals nicht unbedeutender Mensch hat mich darüber belehrt, ein ehemaliger Präsident unseres Verfassungsschutzes, unseres Bundesverfassungsschutzes. Also man stelle sich vor, dass man vielleicht ein bisschen furchtsam ist, wenn man im Dunkeln durch die Stadt läuft und ballt in seiner Hose- oder Manteltasche schon mal sicherheitshalber die Faust, um im Falle eines Angriffs – ich weiß nicht, ob ich hier noch Überfall sagen kann oder schon nicht mehr – ohne große Verzögerung zuschlagen kann, also nicht erst mühselig die Faust ballen und man tut es dann auch. Dann – bleibt ruhig! – ist es kein Überfall mehr, denn der Überfallende, nein, falsch, der Angegriffene, denn er wird ja nicht mehr überfallen, denn er ist ja vorbereitet, und „Aua“ schlägt sogar zurück, schlägt vielleicht sogar zuerst. Wenn er nun die Faust in der Tasche lässt, ist es dann wieder ein Überfall, da dann ja sichtbar die Überraschung gelungen ist? Oder doch kein Überfall, denn er hätte ja … Fragen über Fragen.
Hat der ehemalige Herr vom Verfassungsschutz das wirklich so gesagt? Natürlich nicht ganz so: die Ukraine ist nicht überfallen worden, denn sie war ja offensichtlich gut vorbereitet und hat sich (ich möchte hier fast einschieben: ärgerlicherweise) gewehrt und bislang sogar recht erfolgreich (wieder ärgerlicherweise?) gewehrt, da könne ja wohl von einem Überfall nicht mehr die Rede. Nun will ich diese Überfalldefinition mal ganz ernst nehmen. Wer ist nun überfallen oder meinetwegen angegriffen worden? Die Ukraine überfallen, pardon angreifen, heißt ja wohl, neben Land besetzen, Häuser, Fabriken zerstören und vor allem 42 Millionen Menschen angreifen. Und die haben sich jetzt wohl alle gut vorbereitet, sind nicht überrascht und wehren sich alle – vom Säugling bis zum Greis. So ist das, wenn der Einmarsch in die Ukraine kein Überfall war sondern „nur“ ein Angriff oder vielleicht nicht einmal das. Haben die Russen sich vielleicht nur gewehrt gegen die unerträglichen Provokationen der Ukrainer?
Lassen wir dieses Thema. Eigentlich war noch unerträglicher die Nichtreaktion des Moderators, ebenfalls ein ehemaliger Politiker. Er fand diese Auffassung auch noch interessant.
Natürlich kann man diesem Land bestenfalls nur mit Toilettenpapier und etwas Verbandszeug helfen. Waffen auf gar keinen Fall, das wäre Kriegsbeteiligung. Und die Ukraine ist ja alles andere als ein Hort oder Bollwerk der Demokratie sondern ein zutiefst korruptes Land voller Oligarchen. Wir haben ja auch gar keine Kriegsziele in der Ukraine wie die Ukrainer, die Russen und natürlich auch die Amerikaner, wie kann es anders sein. Welche die Amerikaner haben, lässt er lieber weg. Kann man sich ja denken, vermutlich die Ölfelder Russlands. Ach nein, das ist ja tatsächlich mal gesagt worden: die langjährige militärische Schwächung Russlands. Das darf natürlich nicht im Interesse Deutschlands liegen.
Das ist eine furchtbar langer Einspruch gegen eine so dämliche Behauptung. Aber so ist das immer, umso dümmer eine Behauptung ist, umso absurder sie ist, umso schwieriger, umso langwieriger, ja, umso aufwendiger ist es, sie zu widerlegen. Warum beschäftige ich mich überhaupt damit? Aus dem einfachen Grunde, wenn man mit solchen merkwürdigen, widersinnigen Behauptungen konfrontiert wird, steht man häufig nur hilflos da, weiß nichts zu erwidern. Und umso älter man wird, umso schwieriger wird es offensichtlich, obwohl man doch eigentlich so viel Erfahrung haben müsste, da locker aus der Hüfte zurückzuschießen. Aber so ist es leider nicht. Also muss man anhand solcher Diskussionen, anhand solcher Texte, anhand aller möglichen Twitter- und Facebook-Dialogen diese Fähigkeit erlangen, schnell und treffend erwidern zu können, aber ich befürchte, wenn man dann plötzlich wieder vor einer neuen etwas anders artikulierten, sinnlosen Behauptung steht, ist man wieder in der gleichen Sprachlosigkeit gefangen.