Tagebuch

für mich und wenige andere

Lüge

Um einen Lügen-Satz (oder feiner ausgedrückt: eine nicht begründbare Meinungsäußerung) zu widerlegen, muss man 50 Sätze schreiben. Wenn das reicht. Und es ist hoffnungslos. Keiner wird diese 50 Sätze lesen und wenn doch, dann hämmert der Lügen-Satz weiter im Kopf herum und stört unentwegt bei der geistigen Verarbeitung der neuen Erkenntnisse. Der Satz bleibt hängen, so oder so. Es lohnt also nicht. Es lohnt nicht die sachliche Widerlegung. Was tun?

Die schlichte Verneinung der Aussage beendet die Diskussion, was zuweilen hilfreich sein kann oder gar die einzige Möglichkeit. Ein anderer Weg wäre eine ähnliche nicht belegbare Gegenbehauptung, sozusagen Polemik gegen Polemik oder Demagogie gegen Demagogie. Das hat zweifellos den Vorteil, dass nun zwei schmissige Behauptungen sich im Kopf festsetzen und sich neutralisieren könnten. Das mag für den Wahrheitsliebenden nicht gerade ehrenhaft sein und wird deshalb von debattierende Laien oft leichtfertig verworfen, ist aber für Politiker ebenso häufig das Mittel der Wahl ist.

Ein dritter Weg, an dem ich mich zunehmend Versuche, ist, die fakten-freie Meinungsäußerung ernst zu nehmen, sie als wahr anzunehmen, um sie dann, wie es in der Mathematik üblich ist, zu inneren Widersprüchen zu führen. Besser noch, den Gegenüber seine Widersprüche selbst entdecken zu lassen. Ich will kurz die drei skizzierten Wege zusammenfassen:

1. Die eigene gegenteilige Meinung durch Fakten glaubhaft machen und dabei vielleicht noch die falschen Fakten des anderen abräumen.

2. Andere, nicht belegbare oder nicht gleich belegbare Behauptungen als Fakten auf den Tisch legen

3. Die inneren Widersprüche der gegenteiligen Meinung offenlegen.

Um etwas Butter bei die Fische zu bringen, ein Beispiel: Eigentlich meine ich ja, dass es seit geraumer Zeit nicht mehr lohnt, sich mit Sarah Wagenknecht auseinanderzusetzen, aber sie hat den ungeheuren Vorteil, dass ihre Meinungsäußerungen ungewöhnlich klar sind und man kaum in die Gefahr gerät, einer Fehlinterpretation zu erliegen. So sagte sie kürzlich in ihrem YouTube-Kanal, es ginge bei dem Kampf in der Ukraine nicht um Demokratie und Freiheit sondern es kämpfe der „korrupte, russische Oligarchen-Kapitalismus gegen den ebenso korrupten, ukrainischen Oligarchen-Kapitalismus“.

Es würde mir ungeheuren Spaß machen, die drei genannten Methoden der Auseinandersetzung bei dieser Behauptung anzuwenden, aber ich habe für heute nur versprochen die dritte Methode einzusetzen, da diese, wie ich behauptete, die kürzeste sein soll. Also ich akzeptiere alle stillschweigenden Voraussetzungen dieser Behauptungen, also dass es den korrupten russischen Oligarchen-Kapitalismus und den korrupten ukrainischen Oligarchen Kapitalismus gibt (NB: beides meine ich tatsächlich). Ob der ukrainische Oligarchen-Kapitalismus ein ebenso solcher ist wie der russische, wäre schon einer längeren Untersuchung wert, aber hier akzeptiere ich auch das. Nun stellt sich schlicht und einfach die Frage, warum sollten die gegeneinander kämpfen. Wem nützt das? Das ist doch die wichtigste Frage, die die angebliche Marxistin Wagenknecht doch selbst immer wieder stellt. Hier stellt sie die Frage nicht einmal und beantwortet sie auch nicht, deshalb muss ich das für sie tun: keiner Seite nützt das. Warum sollten Sie also gegeneinander kämpfen. Ihre Mittel des Kampfes sind andere. Natürlich könnte Wagenknecht sich jetzt alle möglichen Motive zusammenfantasieren, aber das würde ihre Aussage schnell ins Lächerliche ziehen, was sie natürlich weiß und deshalb weder die Frage stellt noch sie beantwortet. (Sie darf auch annehmen: der Hörer weiß schon, dass Kapitalisten per se böse sind und deshalb vor keinem Blutbad zurückschrecken.)

Ich möchte hier noch anhängen, dass Wagenknecht vor diesem Satz, die ukrainische Regierung in rüdester Form angreift und natürlich kein böses Wort über das Putinsche Regime verliert. Dass sie ihre höchste Form der Kritik an Russland „korrupter, russischer Oligarchen-Kapitalismus“ benutzt, darf als Schutzschirm gesehen werden, mit dem sie ihre giftigen, ja, hasserfüllten Angriffe gegen die Ukraine legitimieren möchte. Ach, sie ist ja so objektiv!

Ein letzter, nun auch von mir giftiger Satz: ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren (also doch wieder nur vorsichtig formuliert), dass sie in Putin den letzten Vorkämpfer für die marxistische Idee und ein kommunistisches Himmelreich auf Erden sieht.