Tagebuch

für mich und wenige andere

Rote Linien

Mit diesem Begriff tue ich mich schwer, sehr schwer. Ob ich beim Niederschreiben der damit verbundenen Probleme zu mehr Klarheit komme, weiß ich nicht. Es hat wohl wenig Sinn, diese Diskussion losgelöst von konkreten Situationen zu führen, sie in einem abstrakten Raum spielen zu lassen. Ich bleibe also bei dem tobenden Krieg und den dabei aufgetretenen roten Linien.

Wenn ich mich recht erinnere, ist vermutlich Putin der erste gewesen, der so etwas wie eine rote Linie gezogen hat. Er sagte schon am ersten oder zweiten Tag des Krieges, dass er sich jedwede Einmischung, sprich Waffenlieferung, seitens des Westens verbitte und hat praktisch im gleichen Atemzug die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Das war eine maßlos dicke rote Linie und bei Überschreitung wurde sofort die Höchststrafe angedroht. Das hat gewiss viele – besonders in Deutschland – in Angst und Schrecken versetzt. Ich erinnere mich, dass es auch mir in die Glieder gefahren ist. Es war nun interessant zu sehen, dass Amerika darauf total gelassen reagiert hat, d. h. , es hat keinerlei „atomare Gegenmaßnahmen“ vorgenommen und gleichzeitig ein Riesenbudget für Waffenlieferung freigegeben. Damit hat Amerika diese rote Linie als propagandistisch entlarvt, als an Europa gerichtet, aber vielleicht auch als Signal nach innen gerichtet. Als typische Kraftprotzerei, von der sich ein Großteil der Russen immer wieder beeindrucken lässt. Dieses Spiel hat er seitdem mehrfach wiederholt, so dass dann nur noch seine 5. Kolonne, bezahlte oder ehrenamtliche „Experten“, darauf angesprungen ist.

Das ist bislang m. E. die einzige russische Ankündigung, die man als rote Linie hätte bezeichnen können. Ansonsten ist nicht erkennbar, dass Russland uns oder sich selbst rote Linien gezogen hat. Das ist interessant, denn seit Anbeginn des Krieges diskutieren wir über rote Linien, nämlich einerseits solche, die Russland gezogen haben könnte (natürlich nicht für sich), als auch solche, die wir uns selbst ziehen, um Russland nicht zu provozieren oder um uns selbst nicht oder nur wenig zu schaden. War nun die Lieferung westlicher Panzer eine solche von uns gezogene oder vermeintlich von Russland vorgegebene rote Linie, die wir nun überschritten haben? Ich kann mich an keine offizielle Regierungs-, NATO- oder EU-Verlautbarung erinnern, in der das unmissverständlich zum Ausdruck gebracht worden wäre. Aber die große politische und mediale Qual um diese Entscheidung hat uns allen suggeriert, dass wir dabei sind, eine selbstgezogene rote Linie zu überschreiten. Spielt es bei diesem politischen Aufwand eigentlich noch eine Rolle, ob dies tatsächlich eine ausformulierte rote Linie war? Faktisch war es damit eine. Die einzig wirkliche und ausformulierte rote Linie Deutschlands, nicht der NATO nicht der EU, war das Verbot, Waffen in Kriegs- oder Krisengebiete zu liefern. Das haben wir am 27. Februar 2023 über den Haufen geworfen. Dass das auch schon vorher nicht so strikt eingehalten wurde (s. Saudi-Arabien und Jemen) schiebe ich jetzt mal beiseite.

Seit dieser deutschen „Zeitenwende“ gibt es keine klaren Grenzen mehr. Nun hat Scholz in der gleichen Bundestagsdebatte, in der er die Panzerlieferungen freigegeben hat, erklärt, dass weder Flugzeuge noch Langstreckenraketen geliefert werden. Ist das eine rote Linie? Rechtlich gewiss nicht, sonst hätte er das per Abstimmung im Bundestag demokratisch legitimieren lassen können. So ist das nicht mehr als ein Versprechen von ihm an das deutsche Volk und vielleicht ein Signal an die Ukraine und an Russland. Letzteres ist aber fatal. Soll man dem Gegner sagen, so weit geht man und keinen Schritt weiter? Scholz würde das wohl gerne nur als innenpolitisches Versprechen gelten lassen, aber das geht nun mal nicht in einer offenen Demokratie. Damit sind wir in einem Dilemma

Einem Gegner in einem solchen schrecklichen Konflikt darf man nie die Gewissheit geben, dass man irgendetwas, was legitim ist, nicht tut. Und eine legitime Unterstützung für die Ukraine ist alles, was nicht A-, B- oder C-Waffen sind und legitim ist auch nicht der Einsatz von NATO-Truppen auf ukrainischen Boden, solange kein NATO-Staat direkt angegriffen wird. (Natürlich könnte es dafür eine UNO-Mandat geben, aber das dürfen wir wohl als unmöglich ausschließen)

Ich merke, ich quäle mich furchtbar zu einem klaren Standpunkt durch und jeder mögliche Leser wird sich fragen, was er für einen Schluss daraus ziehen soll. Ich versuche es: Es wäre wünschenswert, wenn über rote Linien überhaupt nicht gesprochen wird, denn das was man unter keinen Umständen tun wird, muss selbstverständlich sein, so selbstverständlich, dass es auch der Gegner weiß und alles andere muss eine verantwortungsvolle, demokratische Politik situationsabhängig entscheiden können.

Nun ist aber die Politik kein Wunschkonzert, das nach meiner Partitur gespielt wird, das heißt, es wird wohl weiter über rote Linien gesprochen werden und ich und wir anderen kleinen Leute müssen lernen, wie wir damit umgehen sollen, wie wir es interpretieren sollen. Vielleicht helfen diese Überlegung ein bisschen dabei.