Ich stelle fest, dass ich immer mehr Freude an der Verwendung des Begriffs Narrativ habe. Jetzt jetzt erkläre ich schon eigenmächtig diese Kennan-Prophezeiung zum Narrativ. Oder haben es schon andere getan? Wenn man viel liest, hört und sieht, wird es wirklich immer schwerer zwischen Eigenem und Geklautem zu unterscheiden. Ich sage es so: ich mache mir das Geklaute zu eigen.
Also nun noch mal zum Kennan-Zitat und auch etwas mehr zum gesamten Artikel von Kennan in der „Zeit“ vom 14. Februar 1997:
Die Ausweitung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.
Solch eine Entscheidung, so steht zu erwarten, wird die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung Rußlands anheizen; sie wird sich nachteilig auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken; sie wird in den Ost-West-Beziehungen die Atmosphäre des Kalten Krieges wiederbeleben und die russische Außenpolitik in eine Richtung treiben, die uns ganz und gar nicht gefallen dürfte.
Aus heutiger Sicht, 26 Jahre später, liest es sich wie eine geniale Prognose. Stimmt das auch? Weil jetzt die Ukraine in Schutt und Asche liegt? Zunächst rein sachlich: von „Ukraine in die NATO“ ist weder in der Prognose die Rede noch hat die damalige ukrainische Führung mit seinem Russland ergebenen Präsidenten Kutschma danach gestrebt, auch im Volk dürfte das kaum eine Rolle gespielt haben. Also: das heutige Schlamassel hat so nichts mit dem damaligen „verhängnisvollsten Fehler“ zu tun. Betrachte ich aber den kompletten ersten Satz, so sehe ich, dass er ein Produkt typisch amerikanisch-hegemonialer Denkweise ist: „die Ausweitung wäre ein Fehler der amerikanischen Politik“. Ja, amerikanische Politik hätte es verhindern können, genau wie das auch norwegische Politik oder jedes anderen Landes hätte verhindern können. Und wie kam es? Die baltischen Länder und Polen wurden einstimmig aufgenommen und tanzen noch heute oder gerade heute vor Freude auf den Tischen, dass ihnen das gelungen ist. 10 Jahre später haben Merkel und Sarkozy dafür gesorgt, dass die Ukraine und Georgien nur ein faules Versprechen auf eine mögliche spätere Mitgliedschaft in der NATO bekommen haben. War das ein Fehler? Das mag jeder für sich entscheiden. Jedenfalls hat sich „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik“ nicht durchgesetzt. Dann darf ich vielleicht spekulativ annehmen, dass Kennan und seine Mitstreiter (die er namentlich nicht genannt hat) ihre Strippen gezogen haben, ihre alten Netzwerke aktiviert haben und letztlich diesen „verhängnisvollsten Fehler“ verhindert haben? Dann aber darf ich mich fragen, welchen Wert diese Prognose noch hat. Für diese heutige Situation? Keine! Oder?
Doch sie enthält einige Wahrheiten, die wir für die Einschätzung der heutigen Situation beachten sollten. Ich würde die folgenden Kennan-Sätze nur ein wenig anders einbetten, ohne dabei ihre Aussagen zu verändern, ich mache nur ein anderes Narrativ daraus: der Drang dieser und weiterer Länder in die NATO (und EU) wird der Propaganda gewisser russisch-nationalistischer Kreise Munition liefern, „anti-westliche und militaristische Tendenzen … anheizen“, sie könnte diktatorischen Tendenzen Vorschub leisten, „die Ost-West-Beziehung belasten“, wenn diese Kräfte dann die Oberheit gewinnen und „die russische Außenpolitik in eine …“
Nein, jetzt hätte ich diesen Satz beinah auch wie Kennan fortgesetzt, siehe oben. Hier fällt Kennan – und beinahe wäre ich es auch – auf das typisch russische Narrativ herein: wir werden gedemütigt, wir werden an die Wand gedrückt, wir sind das Opfer der brachialen, schamlosen westlichen Politik und wir müssen dann eine Außenpolitik treiben, die uns immer wieder in völlig ungewollte militärische Spezialoperationen treibt. Jetzt wollte ich diese gerade noch alle aufführen, das hebe ich mir für einen anderen Tag auf und bleibe noch kurz bei dem Kennan-Artikel. Die „geniale Prognose“ wird nun leidenschaftlich von allen möglichen Quellen zitiert, aber irgendwie vermeiden es diese Quellen, den Artikel ganz durchzulesen oder ignorieren den Rest (aber das tut man doch nicht!), dann stößt man nämlich auf eine weitere geniale „Prognose“ von Kennan:
Die Entscheidung ist doppelt unglücklich, da für sie überhaupt keine Notwendigkeit besteht.
Warum auch sollen sich die Ost-West-Beziehungen – bei all den hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Krieges geschaffen hat – ausgerechnet um die Frage drehen, wer mit wem und, implicite, gegen wen in einem phantastischen und höchst unwahrscheinlichen, künftigen Krieg (Hervorhebung von mir) verbündet wäre?
Wow, und das schreibt der Mann, als gerade der erste Tschetschenienkrieg beendet war und der zweite vor der Tür stand, Jelzin mal kurz die Panzer in Moskau rollen und schießen ließ, weil die DUMA nicht so agierte, wie er es wünschte, Russland sich in alle möglichen Konflikte in Georgien und Armenien einmischte? Da redet er vom höchst unwahrscheinlichen, künftigen Krieg? („phantastischen“ habe ich weggelassen, da es eine verunglückte Übersetzungen zu sein scheint. Gemeint ist wohl so etwas wie fantasierten oder herbeifantasierten)
Etwas untergegangen in der Diskussion ist die Forderung Kennans, dass es überhaupt keine NATO-Erweiterung hätte geben sollen und das eigentlich nur mit der Begründung, dass die Russen darauf sauer reagieren würden und es wegen der vermutlich endlosen Friedenszeit auch gar nicht nötig wäre. Ich glaube durch diese Kurzfassung der Problematik wird deutlich, wie naiv Kennan war und wie wir alle naiv mit ihm waren und uns deshalb weitgehend wehrlos gemacht haben.
Ach so, jetzt kommt natürlich der Einwand, dass es ohne Osterweiterung der NATO ein immer liebes Russland gegeben hätte, dass sich friedlich, humanistisch, womöglich demokratisch entwickelt hätte, jeder demokratischen Entwicklung seiner ehemaligen Kolonialländer wohlwollend zugeschaut hätte, von ihnen gelernt hätte oder selbst zum leuchtenden Vorbild geworden wäre usw. usw. Es steht natürlich jedem frei, das zu glauben.
Quintessenz: Russland ist empfindlich, viele Russen fühlen sich schnell gedemütigt, nicht anerkannt, haben einen Hang sich in der Opferrolle wohlzufühlen und die heutige Führung tut alles, diese Grundstimmung zu verstärken und auszunutzen und sie tut nichts, das Volk über wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Erfolge zu einer selbstbewussten Nation zu formen, die sich nicht mehr an ruhmreichen Siege über Nazi-Deutschland aufrichten muss.