Tagebuch

für mich und wenige andere

Putins Bundestagsrede

Immer wieder ist diese Rede von 2001 Gegenstand von Talkshows und Artikeln. Damit verbunden war meistens die Frage: Hat er damals geheuchelt ohne Ende, den Abgeordneten nach dem Mund geredet, sie bis zu stehendem Beifall, um nicht zu sagen Ovationen, angeheizt, oder war er damals anders, hat er sich erst später zum großen Krieger und Rückeroberer gewandelt? Wurde er gar zu diesem Wandel gezwungen durch die weltmachthungrigen Amerikaner?

Ich habe damals die Rede gehört und war vor allem durch die Geste beeindruckt, dass er Deutsch sprach, ich ihn also unmittelbar gehört habe, ihn unverfälscht verstehen konnte. Wirklich unverfälscht? Die Rede war sorgfältig ausgearbeitet, und nach meiner Erinnerung hatte er kein Wort freigesprochen. Das hatte mich bei einem ehemaligen kommunistischen Funktionär und Geheimdienstagenten auch nicht besonders gewundert und auch andere, gebildete Staatsmänner halten ihre großen Reden gewöhnlich nicht frei. Also eigentlich kein hinreichender Grund misstrauisch zu sein. Als ich mir nun die Rede zum zweiten Mal durchgelesen habe, sind mir zwei Dinge aufgefallen:

  1. Sein klares Bekenntnis für Demokratie verbunden mit der Bitte um Verständnis, dass der demokratische Prozess in Russland Zeit braucht, man müsse die Schrecken der Stalinismus überwinden und er lobte die Verdienste der sowjetischen Führung um die Modernisierung und um den Abriss der Berliner Mauer, von geopolitischer Katastrophe keine Rede. Das war offensichtlich Heuchelei, in die er – psychologisch geschickt – mit der jahrhundertelangen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehung zwischen Deutschland und Russland eingestimmt hatte. Dass man das im Bundestag nicht gesehen hatte, bleibt bedenkenswert, selbst wenn man zugesteht, dass auch ein gestandener KGB-Offizier wandlungs- und lernfähig sein könnte, so hätte man zu diesem Zeitpunkt doch schon verinnerlicht haben können, mit welchen brutalen Mitteln und brachialen Wörtern er gegen die Tschetschenen vorgegangen ist. Aber die waren wohl auch im Westen wegen des Verdachts des islamistischen Terrorismus zum Abschuss freigegeben worden und man hatte an der Sprengung der Moskauer Hochhäuser, angeblichen durch Islamisten, nicht allzu viel Zweifel aufkommen lassen, sonst hätte man ihn, Putin, eigentlich nicht einladen dürfen.
  2. Wenige kurze Passagen seiner Rede lassen aber damals schon einen kleinen Teil des Putin durchblicken, den wir heute erleben. So z.B. das Statement, zwischen Amerika und Europa liege der riesige Ozean, zwischen Russland und Europa, besonders Deutschland, die große kulturelle und wirtschaftliche Geschichte. Darf ich daraus einen kleinen aber feinen Spaltungsversuch ableiten? Und dann das weinerliche Russland (seine Stimme fällt auch in diese Richtung), das Russland, das immer Opfer ist, das Russland, mit dem man nicht spricht, dem man in Europa und Amerika nur mitteilt, was man beschlossen hat, dass man nur zur Unterschrift bittet, dass nicht auf Augenhöhe gesehen wird. Hier ist der Sound den wir nur zur Genüge kennen. Das darf man gerne als Ankündigung für spätere Taten sehen. Zur Verdeutlichung ziehe ich mal diesen ganzen Abschnitt heraus: “ Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand. Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir uns über die Zweckmäßigkeit ihrer Ausbreitung. Wir können uns immer noch nicht über die Probleme im Zusammenhang mit dem Raketenabwehrsystem einigen usw.
    Aber währenddessen erkennen wir die neuen realen Bedrohungen nicht und übersehen die Möglichkeit von Anschlägen – und von was für brutalen Anschlägen! Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. Dann spricht man wieder von der Loyalität gegenüber der NATO. Es wird sogar gesagt, ohne Russland sei es unmöglich, diese Entscheidungen zu verwirklichen. – Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist. Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten, und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben.“

    Er redet von wir und meint wohl ständig ihr. Und dann kommen seine zündenden Worte, die er sich gerne heute noch über sein Bett hängen darf „Der Kalte Krieg ist vorbei. . Ich kann mit Zuversicht sagen: Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes.“ Nun hätte ich es beinahe vor Begeisterung überlesen: „… Sicherheit des Volkes„. Der ganze Schmalz davor, nur um die „Sicherheit des Volkes“ unterzubringen, die er nun heute in der Ukraine glorreich verteidigen muss?

Ich will das so zusammenfassen: wir haben den zeitlich größten Anteil der Rede total überbewertet und den zeitlich kleinsten Anteil ignoriert, gar nicht bewertet, nicht gelesen und gehört. Und dieser Teil war sein eigentliches Anliegen, dafür der Redeteil, den wir alle unterschreiben können.

Jeder mag das anders lesen oder hören, das kann sogar mir nach einiger Zeit so gehen, deshalb vermerke ich hier den Link zur Rede, aber nur den Text, der scheint mir wichtiger.
https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966