Tagebuch

für mich und wenige andere

Demokratie im Krieg

Zunehmend findet man kritische Stimmen in den Medien, die sich Sorgen um die demokratische Entwicklung in der Ukraine machen. Die Fernsehanstalten wären de facto gleichgeschaltet, Selenskyj würde immer mehr Macht an sich ziehen, eine Opposition wäre nicht mehr sichtbar, junge Männer dürfen das Land nicht verlassen und sicher gibt es noch ein paar mehr bedenkenswerte Argumente über den Demokratiestatus der Ukraine. Natürlich wird auch schon darüber orakelt, ob es denn 2024 zu regulären Präsidentenwahlen kommen würde.

Als einige Wochen oder waren es Monate nach Kriegsbeginn verkündet wurde, dass etliche Fernsehanstalten zusammengeschaltet wären, um widersprüchliche und dabei insbesondere russisch-inspirierte Kriegsberichterstattung weitestgehend auszuschalten, habe ich mich gefragt, warum Ähnliches nicht längst passiert ist, denn, so dachte ich, kein Land im Krieg kann sich eine ungefilterte Feindpropaganda leisten, denn nichts anderes dürften Anstalten, die von an Russland orientierte Oligarchen gesteuert wurden, geliefert haben.

Von wem wurden nun diese Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungsvielfalt (oder sollte man besser sagen: der Lügenvielfalt) verordnet? Vom Präsidenten? Vom Parlament? Ich weiß es nicht, vielleicht recherchiere ich es demnächst. Vielleicht ist es im Augenblick auch nicht so wichtig. Interessanter ist, dass die Exekutive den Krieg nicht aus eigener Machtvollkommenheit führt sondern sich jedes Vierteljahr vom Parlament das Kriegsrecht wieder bestätigen lässt und dies nun schon zum fünften Mal, vom ersten Tag des Krieges an. Welche Rechte dies umfasst, weiß ich nicht, kann aber sicher leicht ermittelt werden.

Wenn wir diese wenigen Fakten sehen, kann leicht behauptet werden, dass es um die Demokratie in der Ukraine nicht so schlecht bestellt zu sein scheint, jedenfalls in Anbetracht der äußeren Umstände. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage: Wieviel Demokratie kann sich ein Land im Krieg eigentlich leisten? Gibt es historische Beispiele dafür?

In der jüngeren Geschichte fällt mir dazu eigentlich nur Großbritannien ein. Die USA lasse ich mal beiseite, sie sind erst später in den Krieg eingetreten und waren im Land nicht von Kampfhandlungen bedroht. In Großbritannien nun fanden interessanterweise zwischen 1935 bis 1945 keine Wahlen statt! Der Höchstabstand zwischen Wahlen war bis vor wenigen Jahren fünf Jahre. Also wurden in der gesamten Kriegszeit reguläre Wahlen ausgesetzt! Es wird aber noch besser: von 1939 (Kriegsbeginn) bis 1943 war das Parlament suspendiert, keine Tagung, keine Abstimmung, also auch Nullopposition. So viel Demokratie hat sich also das Muster- und Mutterland der Demokratie im Krieg geleistet. Und dann, nach Kriegsende, hatten die Briten nichts besseres zu tun, als ihren siegreichen Kriegsherrn und Premier Churchill abzuwählen. Die Suspendierung der Demokratie hat sie offensichtlich nicht zum Erliegen gebracht.

Nun sollte man aber nicht den voreiligen Schluss ziehen, der Ukraine einen ähnlichen Shutdown der Demokratie empfehlen zu können. Eine sich gerade entwickelnde, immer wieder schwächelnde und auch immer wieder durch Korruption geschwächte Demokratie kann sich einen solchen Totalaussetzer kaum leisten. Aber sie nun in dieser lebensgefährlichen Situation zu voller Blüte zu entfalten, vielleicht noch einschließlich einer russlandfreundlichen Propaganda, kann sich die Ukraine gewiss auch nicht leisten. Es bleibt also ein Balanceakt und man darf hoffen, dass die Resilienz, die die Ukraine in den letzten Jahrzehnten bei Demokratieproblemen gezeigt hat, sich auch wieder bewährt.