Tagebuch

für mich und wenige andere

Hegemonialmacht (2)

Seitdem ich diese Tageseintragungen mache, weiß ich, dass ich über Hegemonie/ Hegemonialmacht schreiben muss. Schon das Wort löst Emotionen aus und nach wenigen Minuten Diskussion ist man bei Amerika, schimpft in den schrillsten Tönen über Amerikas Untaten und Verbrechen, moniert sich gleichzeitig über die Kulturlosigkeit, Esskultur und Bildungsmangel in Amerika und schickt mit dem nächsten Flieger das eigene Kind zum Schuljahr, zum Studium nach Amerika, konsumiert amerikanische Filme ohne Ende und bewundert alle möglichen technischen und künstlerischen Innovationen, die von dort kommen.

Der Widersprüche sind kein Ende. Hass und Bewunderung gleichzeitig! Zwei Seiten der gleichen Medaille? Ja, das gehört zusammen, Hegemonialmächte werden nicht geliebt, aber meistens bewundert, manchmal neidlos, häufig neidvoll.

Und damit habe ich mich langsam – und ich gebe zu: nicht sehr bewusst – einer Definition genähert, was eine Hegemionalmacht auszeichnet: Ihre militärische Macht sollte unbestritten sein, ihre wirtschaftliche Macht muss wenigstens so stark sein, dass sie sich die militärische Führungsrolle leisten kann und ihre sozialen kulturellen und wissenschaftlichen Strukturen und Leistungen sollten einen Stand, eine Reife haben, die für andere Länder in einem bedeutenden Umfang erstrebenswert ist. Ich denke, nur aus dem Zusammenspiel dieser drei Komponenten kann sich eine tragbare politische Führungsrolle ergeben und nur diese wird ja gewöhnlich als hegemonial wahrgenommen.

Die USA hat diese Kriterien seit mehr als 100 Jahre in unterschiedlicher Qualität erfüllt und in den letzten 80 Jahren auch als politischer Hegemon agiert. Haben andere Mächte im vergangenen Jahrhundert sich als Hegemonialmächte etablieren können? Ich gehe einige Beispiele durch:

Deutschland? Es war in der Kaiserzeit eigentlich auf dem besten Weg da hin, hat dann den furchtbaren Fehler gemacht, zu glauben, es könnte in einem Krieg (den es vielleicht nicht bewusst herbeigeführt, aber auch nichts getan hat, ihn zu verhindern, also wohl doch gewollt hat) seine Hegemonialansprüche erfolgreich etablieren und hat nicht begriffen, dass militärische Macht nur dazu notwendig ist, die Hegemonialität abzusichern, aber nicht geeignet ist, sie herbeizuführen.

Hier muss ich – zur Warnung an mich selbst – einschieben, dass diese Überlegungen vielleicht für die letzten 200 Jahre verwendbar sind, aber keinen Sinn mehr außerhalb des Industriezeitalters machen. Nun zu den anderen Hegemonialkandidaten:

Russland? Mein Votum kurz und knapp: Russland/Sowjetunion war nie eine Hegemonialmacht, sondern immer nur eine Kolonialmacht (spätestens seit Katharina) und später eine Atommacht und hat dadurch den Status einer Supermacht bekommen. Den Kolonialmachtstatus hat es seit 1991 weitgehend eingebüßt, wenn ich mal davon ausgehe, dass die verbliebenen autonomen Gebiete und Republiken in der Mehrheit kein Interesse haben, Russland zu verlassen. Trotz seiner zweifellos vorhandenen kulturellen und wissenschaftlichen Stärken, hatten diese nie einen wesentlichen Einfluss in den abhängigen Ländern. Dass etliche Studenten und Post-Studenten in die Sowjetunion gezogen sind (auch ich habe einen glücklicherweise erfolglosen Versuch gestartet) dürfte wohl vor allem auf einen Mangel an Alternativen zurückzuführen sein.

Die wirtschaftliche Stärke Russlands reicht bis heute nicht aus, die militärische Stärke abzusichern, geschweige denn einen Sozialstaat aufzubauen, der westlichen Standards nahe kommt. Sogar zu DDR-Zeiten war es in Wirtschaftskreisen durchaus üblich, mit einer gewissen Arroganz auf die sowjetische Wirtschaft herabzuschauen, von Bewunderung und Nacheifern oder gar Bewunderung keine Spur. Die Berechtigung für eine solche Haltung mag dahingestellt sein.

Nun will Russland Hegemonialmacht werden und ruiniert sich damit in Grund und Boden. Das deutsche Debakel wiederholt sich mit viel schwächeren Voraussetzungen und ob es – wie Deutschland – sich wieder aus dem Debakel herausarbeiten kann, ist auf einem langen Zeitraum nicht abzusehen. Das meine ich gänzlich unabhängig vom Ausgang dieses furchtbaren Krieges. Wenn die Ukraine zum Vasallenstaat Russlands werden müsste oder restlos einverleibt wird, weil uns oder den Ukrainern die Luft ausgeht, wird das Elend für Russland noch furchtbarer, als wenn es sich jetzt zurückziehen würde.

China? Ist es militärisch schon so stark, dass es diesen Anspruch erheben könnte? Ich weiß es nicht, es scheint aber so, dass die wirtschaftliche Stärke ausreicht, den militärischen Ist-Stand abzusichern und weiter auszubauen. Ob nun wiederum die wissenschaftliche Innovationskraft Chinas ausreicht, die wirtschaftliche Macht zu stabilisieren und weiter auszubauen ohne Schützenhilfe aus USA, Europa und Taiwan (vielleicht sogar aus Russland und Indien) ist schwer einzuschätzen, für mich allemal. Ob es jemals einen nachhaltigen Einfluss der chinesischen Kultur auf den Rest der Welt geben wird, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Sollte dies über einen gewaltsamen Prozess erfolgen, wäre der von ähnlich bleibender Wirkung wie der der sowjetisch-kommunistischen Kultur.

Bleibt die Frage, in welcher hegemonialen Welt wollen wir leben, denn eine hegemonialfreie Welt wird es absehbar nicht geben und ich bin mir nicht sicher, ob das wünschenswert ist. Also wähle! Ich habe gewählt.