Tagebuch

für mich und wenige andere

Ein anderes Tagebuch

Ich habe am Anfang von Sergej Gerassimow erzählt, der ein Kriegstagebuch in Charkiv führt, die ersten 2 Monate bereits veröffentlicht hat, aber immer weiter schreibt. Er scheint es laufend in der NZZ (Neue Züricher Zeitung) zu veröffentlichen. Die Erscheinung als Buch wird wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. Nun bin ich mal an einen Eintrag rangekommen und gebe ihn hier ungekürzt wieder.

19. Februar 2023
Wer ein guter Mensch sein will, muss ehrlich sein. Das erfahren wir alle schon in der Kindheit. Und es kann nicht Gutes entstehen, wenn wir Menschen abgrundtief hassen. Auch das wird uns schon sehr früh beigebracht, aus den Märchen, die uns unsere Mutter oder Grossmutter vorlasen, und später aus den ersten Bilderbüchern, die wir uns selber zu Gemüt führten.
Auch unfair zu sein, ist übel. Es ist schlecht, etwas zu stehlen, was einem anderen gehört. Alle kennen wir diese einfachen Wahrheiten, sowohl die Menschen, die in der Ukraine leben, als auch diejenigen, die in Russland geboren sind. Dennoch haben sie viele vergessen. Wie kann es sein, dass Russen sich über Mord und Völkermord freuen? Wie vermögen sie Ungerechtigkeit und Diebstahl vor sich zu rechtfertigen?
Nun gut, bei Putin ist die Sache klar: Niedertracht, Täuschung und die physische Gewalt gegen jene, die im Weg stehen, sind das, was ihm in der KGB-Schule beigebracht wurde. Aber der Rest der Russen ist durch normale Schulen gegangen. Zumindest die meisten von ihnen. Sie lasen normale Bücher und sahen normale Zeichentrickfilme, die sie unterwiesen, nett, aufrichtig und friedfertig zu sein.
Wie können diese Russen in Harmonie mit sich selbst leben, wenn das, was sie sagen und tun, im Widerspruch zu grundlegenden moralischen Vereinbarungen steht? Wie vermögen sie die kognitive Dissonanz auszuhalten?
Eigentlich kein Problem.
«Was zum Teufel ist da los», sagen sie. «Warum kann ich nicht länger von St. Petersburg oder Moskau aus in jedes beliebige Land fliegen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt? Warum kann ich keine Hotels buchen oder Tickets für internationale Transportmittel kaufen? Warum sind meine Bankkarten in allen Ländern ausserhalb von Russland gesperrt?»
Die Antwort, die sie auf diese Frage zu geben pflegen, ist bezeichnend. Weil dumme und feige Europäer und Amerikaner nicht nur Putin, sondern auch Millionen von einfachen Russen den Krieg erklärt haben. Und was haben diese Bastarde erreicht? Einzig und allein, dass sich viele einfache Russen von ihnen abgewandt und sie zu hassen begonnen haben. Die so genannten zivilisierten Länder haben zugegeben, dass sie Feinde jedes einzelnen Russen sind, von Millionen von Wanjas, Wasjas, Petjas und Genas.
Und wenn ihr aber Krieg wollt, dann könnt ihr ihn haben! Angesichts dessen, was ihr uns angetan habt, hassen wir euch, und das russische Volk verachtet euch! Und wenn erneut russische Panzer auf den Strassen von Warschau, Vilnius und Berlin rollen, werden wir sehr glücklich sein! Und ihr, die ihr diesen Plan ausgeheckt und alles arrangiert habt, ihr Herren vom Pentagon und von der Wall Street, denkt daran, dass wir Unmengen von Hyperschallraketen, Kinzhals, Sarmats, Iskanders und andere Köstlichkeiten haben!
Wie weise Bücher schon immer sagten: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann schlag ihm ins Gesicht, denn diese Taktik ist zuverlässig und effizient!
So klingt die perfekte Logik des Hasses.
Und wie steht es mit der Unehrlichkeit? Putin spiegelt ununterbrochen Dinge vor, die nicht den Realitäten entsprechen. In der Tat ist fast alles, was er sagt, eine Lüge. Er ändert seine Lügen ständig, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, dass er heute das Gegenteil von dem sagt, was er gestern behauptet hat. Er lügt auf abscheuliche Weise, indem er offensichtlichste Dinge leugnet, und manchmal tut er das mit dem Unterton «Ich muss das jetzt so sagen, aber wir alle wissen, dass das alles Unsinn ist». Und den Russen gefällt das.

Es waren keine russischen Soldaten auf der Krim. Die Russen werden niemals einen Krieg gegen die Ukraine führen. Die Russen haben die Ukraine noch nie angegriffen. Es sind die Ukrainer, die ihre eigenen Städte beschiessen. Es werden niemals Zivilisten umkommen. Wir haben noch nie Unbeteiligte getötet. Und so weiter und so fort.
Die Russen finden sehr leicht Ausreden für Unehrlichkeit. «Egal wie zynisch, wie hinterlistig wir sind», sagen sie, «wir sollten immer daran denken, dass es dumm ist, ein Mensch zu sein und mit dem Teufel zu verhandeln. Wir schulden Terroristen keine Aufrichtigkeit, wenn wir sie durch unsere Gerissenheit besiegen können.
Eine russische Frau, die erklären will, warum Niedertracht von Nutzen ist, erzählt eine Geschichte aus ihrer Kindheit.
Eines Tages kam sie vom Kindergarten nach Hause und begann ihrer Mutter von einer schrecklichen Ungerechtigkeit zu erzählen, die sie dort erlebt. Sie kochte vor Empörung. Ihre Mutter hörte ihr zu und antwortete ruhig: «Denk daran, meine Tochter: Gerechtigkeit ist ein willkürlicher Begriff. Es ist nur ein Wort, und es existiert nicht wirklich. Setze dich jetzt mit dieser Tatsache auseinander, wenn du fünf bist. Denk jetzt darüber nach und beruhige dich. Später wird das für dich viel schwieriger sein.»
Das Mädchen gab sich Mühe, diese Wahrheit fast eine Woche lang zu verstehen, und seither machte sie sich keine Illusionen mehr. Ihrer Mutter ist sie für ihren Rat unglaublich dankbar geblieben.
Ich denke, das ist insgesamt eine ungute Geschichte.

Neue Züricher Zeitung vom 24.09.2023