Tagebuch

für mich und wenige andere

Stellvertreterkrieg

Stellvertreterkrieg ist ein richtiges Killerwort. Immer wieder wird es einem um die Ohren gehauen, und dann hat man zusammenzuzucken und zu nicken, denn nun ist die ultimative Wahrheit über den Krieg verkündet, auch über diesen Krieg, der uns neben den ca. 20 anderen am meisten bewegt.

Als Herr Precht kürzlich im Podcast mit Herrn Lanz verkündete, dass wir demnächst einen Stellvertreterkrieg in Moldawien befürchten müssen, war ich überrascht, obgleich ich doch schon einiges von ihm auf politischem Gebiet gewöhnt war. Wie konnte er zu dieser Plattitüde greifen?

Ich komme auf diese Äußerung zurück, aber zunächst will ich mich mit dem Begriff Stellvertreterkrieg auseinandersetzen. Was kann Stellvertreterkrieg bedeuten? Simpel vielleicht: Ein Land führt für ein anderes Land Krieg. Es ließe sich auch der Fall konstruieren, dass eine Organisation zwei Länder aufeinanderhetzt, die dann für diese Organisation einen Stellvertreterkrieg führen. Oder nur ein Land wird von einer Organisation zum Krieg führen veranlasst oder verleitet. Ich schaue mir den Fall Ukraine an. Auch hier wird von Stellvertreterkrieg gesprochen. Sicher ist, dass Russland keinen Stellvertreterkrieg führt. Die machen den Dreck tatsächlich selber. 2014 haben sie sich darin mal geübt. Es gelang nicht so richtig, mussten dann eingreifen, wenn auch ohne Rang- und Hoheitsabzeichen.

Führen die Ukrainer Krieg für irgendwen in ihrem eigenen Land? Schon den Gedanken überhaupt zu denken, ist irrsinnig. »Irgendwer« kann dann eigentlich nur die USA sein, denn die NATO als Organisation scheidet wegen des Einstimmigkeitsprinzips aus. Amerika müsste also die Ukraine dazu verleitet haben, dass sie die Russen so lange provozierten, bis denen nichts anderes übrig blieb, als einzumarschieren. (Das erzählen die Russen den Russen von morgens bis abends). Und dabei ist natürlich anzunehmen, dass die Ukrainer so naiv sind, sich darauf einzulassen.

Anderen fallen sicher noch bessere Gründe für die verordnete Stellvertreterrolle der Ukraine ein. Da gibt es vor allem die Schwächung Russlands als Erzfeind. Das ist ein schwerwiegendes Argument, da es sogar vom amerikanischen Verteidigungsminister gebraucht wurde. Das es sich hierbei um ein nachgeschobenes Argument handelt, dürfte klar sein. Es taugt nicht als Argument, um langfristig einen Stellvertreterkrieg vorzubereiten, sondern ist nur an die amerikanische und vielleicht europäische Öffentlichkeit adressiert, diesen Krieg finanziell und materiell zu unterstützen.

Es fällt mir überhaupt schwer, den Amerikanern Stellvertreterkriege nachzuweisen, zumeist sind sie selbst tief im Schlamassel mit Zehntausenden von Toten gewesen. Der einzige Stellvertreterkrieg der Amerikaner, der mir spontan einfällt, war die Invasion in der Schweinebucht mit einer Gruppe von Exilkubanern. Das ging total schief. Vielleicht wollten sie in Vietnam ein Stellvertreterkrieg führen lassen. Auch das ging schief, wenigstens 50.000 amerikanische Kriegstote. Ich habe den Eindruck, Stellvertreterkriege lassen sich nur sehr schlecht von souveränen Staaten führen, meistens sind es Bürgerkriege, die stellvertretend für andere Mächte geführt werden. Ob man die Bürgerkriege im Sudan und Jemen als Stellvertreterkriege bezeichnen sollte bzw. kann, weiß ich nicht. Dass die eine Seite vom Iran die andere von Saudi-Arabien unterstützt wird, sehe ich nicht als hinreichend für eine solche Einordnung. Man darf durchaus annehmen, dass beide Konfliktparteien auch ihre eigenen Interessen verfolgen., .

Kehren wir zurück zu Precht´s These vom Stellvertreterkrieg. Hier der Wortlaut:

Podcast »Lanz und Precht« vom 14.04.2023

An diesem Satz merkt man besonders deutlich, wie unsagbar dumm diese These ist, dass sie nur eine propagandistische Totschlagsphrase ist. Dass es hier vermutlich Machtinteressen Russlands gibt, leuchtet ein: Es ist ein Stück Sowjetunion abgeschnitten worden, die man zurückhaben will. Warum sie das wollen sollten, bleibt rätselhaft. Moldawien könnte niemals die Strahlkraft einer europäisch integrierten Ukraine erreichen. Ziel könnte hier nur sein: zerstören, zerstören, zerstören, wie in der Ukraine.

Amerikanische Machtinteressen? Es mag ja Leute geben, denen da etwas einfällt, mir nicht. Die Amerikaner haben riesige Probleme in Asien – von den inneren ganz abgesehen, kein europäischer Konflikt taugt in Amerika als Kompensation – und wären damit total ausgelastet. Dass sie nun bis zum Hals in der Ukraine stecken, dürfte auch Mr. Biden keinesfalls gefallen, und die Republikaner, die sonst immer viel eher bereit waren, mal ein bisschen einzumarschieren, vermitteln den Eindruck, dass Sie sich schon jetzt zurückziehen würden.

Interessant ist übrigens im obigen Zitat das Wörtchen »wieder«. Daraus folgt also, dass Russland und Amerika ständig irgendwo Stellvertreterkriege für ihre Machtinteressen führen. Das hätte ich doch gerne aufgelistet.

So richtig befriedigend sind diese Betrachtungen noch nicht. Ich werde vermutlich noch einmal darauf zurückkommen.