Tagebuch

für mich und wenige andere

Unauslöschliche Erinnerungen

Wo habe ich vom Tod John F. Kennedys erfahren? Das kann ich genau sagen: Ich stand an meinem Kleiderschrank auf dem Flur meines Studentenheims. In diesem Augenblick kam die Reinemachefrau um die Ecke und erzählte, Kennedy wäre erschossen worden oder angeschossen, das wusste sie nicht so genau. Und so geht es den meisten Menschen mit vielen großen Ereignissen. Sie wissen genau, wo sie das erste Mal davon gehört haben, sie wissen, wer es Ihnen gesagt hat, und auch, was sie dabei empfunden haben. Das kann je nach Alter der Mauerbau gewesen sein, der Mauerfall und gewiss Nine Eleven. Für die meisten ist es nun auch der 24. Februar 2022.

Am Morgen des 24. Februar hörte ich, als ich aus dem Bad kam, ein paar Wortfetzen von Bombenangriffen und Artilleriebeschuss. Ich fragte Ulrike: »Ist es losgegangen?« So, glaube ich, habe ich es formuliert. »Ja«, sagte sie. »Scheiße«, sagte ich. Und ich setzte meine Morgenroutine fort. Erst dann hörte ich tief deprimiert, aber nicht überrascht, die Nachrichten. Ich rechne mich zu denen, die bis zum Schluss gehofft haben, dass es nicht geschieht, aber dennoch gewusst haben, dass es geschehen wird. Ist das ein Widerspruch? Ich glaube nicht. Tief steckt in jedem Menschen eine Art Wunderglaube, der sich gegen die rationale Erkenntnis wehrt, bis es nicht mehr geht. Ich bedaure sehr, dass ich an diesen Tagen nichts aufgeschrieben habe. Ich hätte zu gerne gewusst, ob ich mir jetzt Märchen erzähle, ob mich meine Erinnerung trügt.

Einige Monate später war ich Hörer und Zuschauer einer Podiumsdiskussion, bei der ein deutscher Admiral – mit Arbeitsort EU Brüssel – und ein ehemaliger Wehrbeauftragter des Bundestages debattierten. Sie bekundeten beide, dass sie nicht mit dem Einmarsch gerechnet haben. Putin würde es nicht wagen. Nach der Debatte hatte ich Gelegenheit, mit beiden noch unter vier Augen zu sprechen, und fragte recht nachdrücklich den Admiral, wie er und seine Umgebung die Lage so falsch einschätzen konnten, da sie doch viel bessere Informationen als ich hatte. Ich sah das typisch russische Muster: Einmarsch in Berlin 1953, Einmarsch in Budapest 1956, Einmarsch in Prag 1968 und Einmarsch in Afghanistan 1979. Das geschah immer dann, wenn kaum mit Widerstand zu rechnen war.

Vorausgegangen waren vor Prag und jetzt vor dem Ukraine-Einfall Manöver, die für beendet erklärt wurden. Der Admiral sagte mir, dass sie davon ausgegangen wären, Mannschaftsstärke, Ausrüstung, Logistik würden für eine solche Operation nicht ausreichen. Diese westeuropäischen Experten haben offensichtlich nicht berücksichtigt, dass Putin kein rationaler Spieler sein könnte, oder dass er rational ist, aber die eigene Stärke und die der Gegner falsch einschätzte? Der Admiral stellte selbstkritisch fest, das Fehlurteil wäre wohl ein Ergebnis von zu viel und nicht von zu wenig Information. Dass der amerikanische Geheimdienste die Situation richtig einschätzte, spielte offenbar wegen seines Versagens vor dem Irakkrieg keine wesentliche Rolle in Deutschland und Westeuropa. Oder es liegt einfach daran: Wir haben in Sachen Russland eine Mattscheibe.

An dieser Stelle muss ich erzählen, was ich gerade lese: »Schützenhilfe« von Jonas Kratzenberger, unterstützt von Fred Sellin. Kratzenberger, ein junger Mann von 25 Jahren, gerade am Ende seines fünfjährigen Freiwilligendienstes in der Bundeswehr, erfährt – ähnlich verschlafen wie ich – morgens im Bett über eine SMS von einem Freund: »Es ist losgegangen.« Auch er ist ähnlich wenig überrascht wie ich. Warum hatte er das so vorausgesehen? War das schon die Stimmung in der Truppe, war es seine Teilnahme an einem Afghanistan-Einsatz, sein Training für den Kriegseinsatz? Es ist interessant, auf wie viel verschiedenen Wegen man zu einem ähnlichen Urteil kommen kann. Der junge Mann meldete sich daraufhin für den Kriegseinsatz in der ukrainischen Armee. Jetzt ist er zurück und vermittelt uns seine Erkenntnisse. Das Buch macht einem das Unfassbare verständlich, wie ein junger, deutscher Mann ohne jeden Kontakt zur Ukraine sich entscheiden kann, freiwillig in den Krieg zu ziehen.