Tagebuch

für mich und wenige andere

Alles erklären?

Heute sprenge ich mein Tagebuch: keine Politik, keine Medienkritik, keine Künstliche Intelligenz. Heute möchte ich mutig in die Kunst abtauchen.

Ich stehe vor einem Bild, lasse die Farben auf mich wirken, rätsele, warum eine Figur verschwommen, ein Baum nicht grün, die Sonne auf- oder vielleicht doch untergeht. Da kommt die Malerin vorbei und deutet mir ihr Bild. Weiß genau, warum sie das so und das andere anders gemalt, welche Farben sie zu welchem Zweck verwendet, warum sie die Umrisse hervorhebt und nicht verschwimmen lässt usw. usw. Ich höre und staune, wie einfach alles ist. Wie sich alles zusammenfügt und wie, was soll ich sagen, wie langweilig das Bild ist. Habe ich es eben nicht noch herausfordernder erlebt, fühlte ich mich nicht zu geistiger Anstrengung provoziert? Jetzt sehe ich nur noch ein simples Bild, das sich mühelos erklären lässt.

Malerin oder Maler, lass deine Erklärung, dein Talent schaut tiefer als deine Worte es vermögen! »Die Kunst ist nicht im Werk, sie ist im Auge des Betrachters.« Wer hat diesen Satz in die Welt gesetzt? Ich weiß es nicht. Er hat mir mehr geholfen als jede wortreiche Interpretation. Marcel Reich-Ranicki predigte, jedes gute Buch habe einen doppelten Boden. Ich fürchte, es sind mehrere Böden, denn auch hier ist es wie in der Malerei, jeder gräbt nach dem doppelten Boden – nach dem tieferen Sinn – an den Stellen, die für ihn zugänglich sind, die in seine Weltsicht passen. Häufig lässt er sich nur erahnen, nicht benennen. Wann merkt man eigentlich, da ist noch mehr als der oberflächliche Handlungsablauf, mehr als die gekonnte Formulierung, mehr als die starke Ausdrucksform? Wenn man das Bedürfnis hat, noch einmal zu lesen, wenn man den Verdacht hat, etwas ist mir entgangen, etwas habe ich nicht richtig fassen können. Und so ist es auch beim Bild, bei der Skulptur. Immer wieder kehrt man zurück, sucht nach dem Unbeachteten, dem Verborgenen? Natürlich hilft dabei ein Titel zum Bild, ein Thema zu einer Bilderserie. Es helfen auch die einordnenden und detaillierten Betrachtungen von Kunstkritikern und Kunsthistorikern, aber nicht die Selbsterklärungen des Malers oder des Schriftstellers. Das Werk reicht über den Schöpfer hinaus.

Wie bitte? Er soll nicht erklären dürfen, was ihn zu diesem Werk getrieben hat, welche persönliche Erfahrung beim Bild Pate gestanden hat. Doch das darf er. Es ermöglicht dem Betrachter, auch den Blickwinkel des Künstlers einzunehmen. Dabei bleibt aber der Betrachter frei, das Gestaltete anders zu interpretieren als der Künstler.