Tagebuch

für mich und wenige andere

Das Kriegsgeschehen

Bisher habe ich mich gescheut, etwas über die jeweilige Lage an der Front zu schreiben. Diese Lage änderte sich in den letzten Monaten langsam. Jetzt scheint sich wieder einiges zu beschleunigen. Das Tagebuch soll ja meine Gedanken zur Lage aber nicht die Lage selbst festhalten. Dennoch muss ich jetzt mal versuchen, den Augenblick, wie er sich mir darstellt, zu beschreiben.

Seit Wochen wird von der erwarteten Offensive der Ukraine gesprochen. Die Russen scheinen sich eingegraben zu haben und hoffen offenbar, im Verteidigungskampf die Ukraine entscheidend zu schwächen. Gleichzeitig erscheint die russische Lage ziemlich chaotisch zu sein. Die lange erwartete totale Besetzung Bachmuts findet nicht statt. Die ukrainischen Kräfte konnten nicht vollständig eingekesselt werden. Stattdessen brechen die ukrainischen Truppen die russischen Zangen um Bachmut auf und zwingen bedeutende Truppenteile zur Flucht. Warum die Ukraine Bachmut nicht aufgegeben hat, war nicht klar, warum die Russen es nicht geschafft haben, es zu erobern, ebenfalls. Rivalisierende russische Kampftruppen, private und offizielle, scheinen sich nicht das Schwarze unter den Fingernägeln zu gönnen. Durch diesen zum großen Teil offenen verbalen Schlagabtausch zwischen der Armee und den Privattruppen (es gibt nicht nur Wagner) wissen wir heute mehr über die russische Situation als über die ukrainische, die ihre Geheimhaltung sowohl über ihre Absichten als auch über die Stimmung in der Truppe und in der Bevölkerung perfektioniert zu haben scheint.

Nun reiste Selenskyi durch Europa, um Geld, Waffen und Versprechungen einzusammeln. Wird er seine Verbündeten gesagt haben, was er vorhat? Keinesfalls. Durch den unglaublichen Leak in den USA eines kleinen Nationalgardisten ist das Misstrauen in der Ukraine über die Geheimhaltungsfähigkeit unserer geschwätzigen Gesellschaften sicher noch einmal gewachsen. Er wird nicht gesagt haben, wann und wo die erwartete Offensive losgeht, aber vermutlich dennoch so viel Vertrauen erweckt haben, dass die Europäer noch bereitwilliger liefern als bisher. Wenn auch einige Beobachter meinen, die Offensive wäre schon losgegangen, sagen andere, es wird noch auf Waffen gewartet. Gleichzeitig werden – vermutlich absichtlich – von ukrainischer Seite sehr widersprüchliche Nachrichten verbreitet. Der ukrainische Verteidigungsminister versucht, die Erwartungen über die Offensive zu dämpfen. Seine Stellvertreterin dagegen äußert, wir werden die Russen in Angst und Schrecken versetzen. Zurzeit versuchen die Russen durch verstärkte Luftangriffe (Drohnen, Marschflugkörper, Raketen aber kaum Flugzeuge) die Ukraine von aktiven Kampfhandlungen abzuhalten, ihre Kräfte an die großen Städte zu binden. Zeigen nach meiner unmaßgeblichen Meinung damit aber, dass sie zurzeit nicht mehr können als aus der Ferne auf schwache Ziele zu schießen. Da die versprochenen Waffenlieferungen sicherlich noch etliche Wochen dauern werden, kann es sein, dass diese nur als Nachschub für die Offensive angesehen werden oder dass die Offensive noch einige Wochen auf sich warten lassen wird. Nichts lässt sich prognostizieren, auch nicht für Experten. Krieg ist kein linearer Prozess, von einem Tag auf den anderen kann sich die Lage dramatisch ändern oder sich auch hoffnungslos festfahren. Letzteres glaube ich jetzt nicht.

Das Tagebuch wartet immer noch darauf, dass dem Eintrag Frieden (1) vor einigen Monaten endlich ein Eintrag Frieden (2) folgt, aber seit der Diskussion zur RAND-Studie fällt mir dazu nichts ein und anderen offenbar auch nicht. Nein, der letzte Beitrag dazu war von Ischinger im Tagesspiegel. Hatte ich den diskutiert? Nein, habe ich nicht. Das ist ein Versäumnis. Vor kurzem wurde er noch einmal in einer Talkshow (Illner oder Will) aufgegriffen. Vielleicht hole ich ihn nochmal vor.