Tagebuch

für mich und wenige andere

Nordstream 2

Gut ein Jahr vor der Invasion habe ich den folgenden aus heutiger Sicht ziemlich dümmlichen Artikel geschrieben. Das ich leider nur wenig in dieser »Vorkriegszeit« (eigentlich Kriegszeit, denn für die Ukraine ist seit 2014 Krieg, nicht einmal das schien mir bewusst zu sein) geschrieben habe, nehme ich dies als besonders treffendes Beispiel für eine Fehleinschätzung. Wobei die einzelnen Analyseschritte manchmal das Richtige treffen, bleibt auch aus damaliger Sicht die Schlussfolgerung abwegig, ich hätte auch anderes folgern können. Warum nicht? Versucht mit mir, aus diesen Fehlern zu lernen.

Wer braucht Nord Stream 2?

25.01.2021
Zurzeit spitzt sich die Auseinandersetzung um die Gaspipeline Nord Stream 2 wieder außerordentlich zu. Die Angriffe erfolgen aus den verschiedensten Richtungen und aus den unterschiedlichsten Motiven heraus. Besonders deutlich wurde die Diskussion um diese Pipeline zur Zeit von Trump, der ganz offensichtlich sein furchtbares Frackinggas verkaufen wollte und die russische Konkurrenz natürlich überhaupt nicht besonders smart fand. Nachdem nun Trump Geschichte ist und Biden einerseits ebenfalls kein großes Interesse an Nord Stream 2 hat, aber gleichzeitig das Fracking wohl wieder zurückdrängen will – bis hin zum Verbieten – sowohl aus ökologischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen, fragt sich nun, was die eigentlichen Motive der Amerikaner sind, diese Pipeline so vehement abzulehnen. Aus europäischer Sicht kommt ebenfalls Widerstand gegen diesen Pipelinebau, im Augenblick besonders aus dem Europäischen Parlament, die den Stopp des Ausbaus als Sanktionsmaßnahme benutzen wollen, als Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys.
Wir müssen uns am Anfang vielleicht noch mal fragen, welches Motiv für den Bau der Pipeline es überhaupt gab. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin, dies umfassend zu beantworten, darum werde ich das vorsichtig als Frage formulieren: Warum brauchen wir Deutschen, warum braucht Deutschland diese Pipeline? Es gehen etliche Röhren über das Festland, über Polen und Ukraine nach Deutschland, es geht Nord Stream 1 durch die Ostsee nach Deutschland. Ist dann Nord Stream 2 unbedingt notwendig? Wir stehen doch vor der großen Energiewende, vor der großen Energieerzeugungswende, wir behaupten, dass wir kontinuierlich immer mehr erneuerbare Energien zum Einsatz bringen. Der Anteil der erneuerbaren Energien liegt bei 40% und es sieht nicht so aus, als wenn dieser Anteil zurückginge, selbst bei verschiedensten Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Windradbau, aber auch bei der Bereitstellung von Flächen für die Solarenergie. Dennoch meinen wir diese fossilen Brennstoffe weiter in gesteigertem Maße benutzen zu müssen? Ist das wirklich so? Gibt es keinen anderen Weg, sind wir in der Erzeugung erneuerbarer Energien so ins Hintertreffen geraten, dass wir diesen Pipelinebau unbedingt brauchen? Ich stelle es hier als Frage, und ich habe den Eindruck die Antwort ist: nein. Die einzige Rechtfertigung könnte sein, dass möglicherweise die Jahrzehnte alten Überland-Pipelines derartig marode geworden sind, dass man sie lieber ungenutzt verrotten lässt, anstatt sie zu reparieren und dafür die möglicherweise bequemer zu bauende Pipeline durch die Ostsee legt.
Was zwingt uns zu dieser Pipeline? Die Sicherheit der Energieversorgung? Dann steht es relativ schlecht um die nachhaltig Energieerzeugung und dann steht es sehr schlecht um das Erreichen der Klimaziele 2030, 2040, 2050. Das bedeutet praktisch ein Aufgeben der Klimaziele.
Versuchen wir mal die einzelnen Argumente der verschiedenen Akteure Pro und Contra der Pipeline 2 aufzufächern.
Die maroden Leitungen. Gehen wir mal davon aus, dass dies tatsächlich so ist, dass hier ein enormer Erneuerungsbedarf besteht. Aber kann man es sich leisten, sie verrotten zu lassen und sie durch Nord Stream 2 zu ersetzen. Ich wage, das zu bezweifeln. Diese Leitungen werden immer gebraucht. Nehmen wir mal an, dass die Befürchtung der östlichen Länder, dass Russland Ihnen einfach den Gashahn zudrehen kann, wenn die Leitungen durch die Ostsee gehen, nehmen wir auch an, dass diese Befürchtungen berechtigt sind, dann sind wir als gute Europäer natürlich verpflichtet, das Gas von uns aus, das wir aus Russland erhalten haben, wieder partiell zurück in diese Länder, insbesondere natürlich in die Länder der Europäischen Union zu leiten, aber auch in die Ukraine. Das heißt, die Leitungen werden also in jedem Fall gebraucht, entweder für die Durchleitung oder für die Rückleitung. Damit entfällt das Argument, marode Leitungen müssten nicht erneuert werden, sondern durch eine Unterwasserleitung ersetzt werden.
Widerstand der östlichen Länder. Es ist ganz offensichtlich, dass die östlichen Länder kein ausgeprägtes Interesse an dieser Leitung durch die Ostsee haben, dafür könnten sie sogar ökologische Gründe anführen, aber in erster Linie sind es natürlich wirtschaftliche Gründe: die Erpressbarkeit dieser Länder (und sei es auch nur durch erhöhten Preisdruck) durch Russland wird durch die neue Leitung erheblich erleichtert, meinen diese Länder. Das stimmt natürlich genau dann nicht, wenn sich Europa in diesen Fragen immer einig wäre, aber das bezweifeln aus guten Gründen einige dieser Länder, die ja selbst ein großes Maß zur Uneinigkeit beitragen. Also gegen die Leitung durch die Ostsee zu sein, ist für diese östlichen Länder einfach einsehbar.
Warum sind wir Deutschen für diese Leitung? Da mag es verschiedene Gründe geben. Es kann durchaus sein, dass der Beschluss, diese Leitung zu bauen, in einer Zeit gefallen ist, als man noch nicht annehmen konnte, dass der Anteil der erneuerbaren Energien so hoch steigt, also dass eine weitere sichere Versorgung mit Energie nicht nötig sein wird. Nun sind es wohl vertragliche Verpflichtungen, dass weitergebaut wird, unabhängig davon ob noch eine Notwendigkeit im ursprünglichen Sinne besteht oder nicht. Wenn dem so ist, darf man sich fragen, ob durch einen solchen Leitungsbau eine zusätzliche Abhängigkeit entsteht. Nach meiner Vermutung nicht, denn die Abhängigkeit besteht und entsteht genau in umgekehrter Richtung. Für Russland dürfte es auf absehbare Zeit wichtiger sein, Öl zu liefern, statt zurückzuhalten. Damit ist die Argumentation der Amerikaner, wenn sie dann unter Biden aufrechterhalten bleibt, aus deutscher Sicht hinfällig, muss aber nicht aus amerikanischer Sicht hinfällig sein.
Warum will Russland die Pipeline? Es scheint nicht so zu sein, dass Russland die Motivation hat, eine Abhängigkeit der westlichen Staaten zu erzeugen. Sie hatte diese Motivation auch zu Sowjet-Zeiten nicht. Der einzige und wirkliche Grund Russlands für die Lieferung von Gas und auch Öl durch weitere Leitungen und damit Verstärkung der Lieferung ist die Auffüllung des Staatshaushalts, der durch eigene Leistungen, sprich durch den eigenen Aufbau einer Wertschöpfungskette von der Energieerzeugung bis zur Herstellung weltmarktfähiger Produkte nicht im ausreichenden Maße möglich ist, sie brauchen schlicht und einfach Geld, um ihre maßlose Oligarchie zu versorgen und um der russischen Bevölkerung so viel Brosamen davon abgeben zu können, dass sie nicht daran denkt, auf die Straße zu gehen. Durch den Rohstoff-lastigen Export Russlands entsteht eine Abhängigkeit von den ständig schwankenden Weltmarktpreisen, die immer wieder zu Instabilitäten in diesem Riesenreich geführt haben.
Widerstand des Europäischen Parlaments. Warum sich nun das Europäische Parlament besonders stark gemacht hat, die Pipeline als Sanktionselement einzusetzen, ist mir noch etwas rätselhaft. Die Vergiftung Nawalnys ist ein furchtbarer Vorgang, der Reaktionen erfordert, aber ich habe überhaupt nicht den Eindruck, dass man es mit Sanktionen dieser Art lösen kann. Die einzig wirklich wirksame Sanktion ist das Einfrieren von Guthaben russischer Oligarchen und russischer politischer Obrigkeit im Ausland, das würde schmerzhafter wirken und man darf sich fragen, warum das nicht angegangen wird, sondern diese Pipeline-Sanktion. Man darf gerne vermuten, dass hinter dieser Vorgehensweise doch andere Kräfte stecke, die aus welchen Gründen auch immer eine solche Belieferung Europas und in erster Linie Deutschlands mit Gas nicht wollen. Darüber können wir spekulieren, aber das bringt nichts. Dazu fehlt mir eine ausreichende Wissensbasis. Aber man darf natürlich fragen: Wenn der Pipeline-Stopp eine Sanktion gegen Russland sein soll, kann wohl die Notwendigkeit des Ausbaus für Deutschland und Europa nicht besonders groß sein?
Die amerikanischen Motive für die Aufrechterhaltung ihrer negativen Haltung zur Pipeline können wir zurzeit nicht hinterfragen, hierzu muss noch ein bisschen mehr politische Entwicklung in den USA stattfinden. Vielleicht wird auch nur noch eine gewisse Zeit die Rhetorik aufrechterhalten, bis sie dann einfach sang und klanglos verschwindet. Das müssen wir abwarten.
Schlussfolgerung
Wenn man alle diese Argumente zusammen betrachtet, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass der Bau der Pipeline Deutschland nicht schadet, ebenso Westeuropa nicht und Russland in eine Abhängigkeit bringt bzw. darin hält, die verhindert, dass dieses es seine ungeheuren Reichtümer für eine spätkapitalistische Entwicklung einsetzt und effiziente Wertschöpfungsketten aufbaut.
Wenn wir also aus machtpolitischen Gründen meinen, dass man Russland unten halten müsste, Russland nicht an den Töpfen der Globalisierung partizipieren lassen sollte, damit sie nicht übermäßig mächtig werden, dann sollten wir Russland so viel Öl und Gas abnehmen, wie nur irgend geht. Dass es irgendeinen bedeutenden politischen Führer in Europa gibt, der solche oder ähnliche geopolitischen Überlegungen anstellt, halte ich für ziemlich abwegig. Auch einem Macron dürfte ein halbwegs gesundes, wenn auch nicht übermächtiges Russland lieber sein als ein schwächelndes immer am Rande eines im Aufruhr stehendes Russland. Zurzeit ist der Laden halbwegs überschaubar wie zu Sowjet-Zeiten, Änderungen bitte auch ganz langsam und überschaubar.
Es ist unerheblich, ob die Pipeline zu Ende gebaut wird oder nicht.