»Man muss doch beide Seiten sehen. Was haben die Amerikaner nicht alles angestellt, da dürfen die Russen doch auch mal.« Na gut, ganz so wird es nicht oft ausgedrückt, aber gemeint ist es immer so. Man kann diese Vergleicherei – neuerdings Whataboutism genannt – aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Die historische Sicht, bei der man nicht recht weiß, wie weit man zurückgehen soll, die reine Gegenwartssicht, also das unmittelbare politische Geschehen, das uns in diese Situation gebracht hat, man kann aber auch eine psychologische Sicht einnehmen, also vermuten, dass diese ausbalancierende, beiden Seiten recht oder unrecht zubilligenden Haltung eher daraus abzuleiten wäre, wie man mit allgemeinen Gefahrensituationen umzugehen pflegt.
In diesem Artikel will ich bei dem letzten Punkt bleiben. Ihn zu erklären, ist schwierig, weil die Vertreter dieser Haltung meinen, sie hätten sie aus einer historischen oder/und einer gegenwartspolitischen Sicht abgeleitet. Aber ist das wirklich so oder wird diese Argumentation nur nachgeschoben, die Haltung ist zuerst und dann wird begründet. Um diese These etwas aufzudröseln, will ich mir zwei Prototypen für die entgegengesetzten Positionen in diesem Konflikt konstruieren: Als den einen Prototyp nehme ich mal der Einfachheit halber mich selbst. Eigentlich bin ich tief in meinem Inneren Russland-freundlich, ich liebe die russische Literatur, die russische Musik und natürlich soweit ich sie bislang sehen konnte – die ungeheuer weiten Landschaften und zu den Menschen, die ich kennenlernen konnte, hatte ich in den meisten Fällen ein positives Verhältnis. Auch die russische Sprache finde ich beeindruckend, besonders die männliche Intonation, aber ich liebe sie nicht wie das französische, italienische, ungarische und einige mehr. Aber in die russische Geschichte habe ich meistens mit einem Gruselgefühl geblickt und dabei denke ich nicht nur an die Stalin-Zeit. Und es war meistens die russische Literatur, die mich dabei das Gruseln lehrte.
Und nun dieser furchtbare Überfall auf die Ukraine. Mit einem Schlag wird dann die schaurige russische Geschichte zur unmittelbaren Gegenwart. Denke ich – der Prototyp – dann noch »Frieden schaffen ohne Waffen«? Schlagartig bin ich für eine umfassende waffentechnische Unterstützung der Ukraine. Mit jeder Verzögerung leide ich mit den verzweifelten Ukrainern. Und weiß, wenn die verlieren, haben wir alle verloren. Das mühselig zusammengeflickte, friedliche Europa bricht auseinander. Ich brauche für meine Einstellung keine Begründung aus der russischen Geschichte (wenn diese auch nicht ohne Einfluss ist), es genügt die unmittelbare Gegenwart. Es geht nur darum, das mühselig aufgebaute Europa nicht untergehen zu lassen.
Nun der andere Prototyp. In meinem Kopf schwirren da ein paar Vorbilder, die ich natürlich nicht benennen werde. Ich unterstelle diesem Prototyp eine ähnliche Stellung zu Russland, wie ich sie habe, ich unterstelle ihm, dass er ähnlich erschrocken über diesen Krieg ist. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass er früher zu sehr Russland als das Vaterland aller Werktätigen verinnerlicht hat, aber das dürfte dann nur für einige Ostsozialisierte gelten und damit erfasst man nicht den klassischen westdeutschen Friedenskämpfer und schon gar nicht die, die besonders in der letzten Zeit den verschiedensten Verschwörungsmythen aufgesessen sind.
Dieser Prototyp steht nun etwas hilflos in der Landschaft, kann nicht aus sich selbst heraus die Stellung beziehen, die er gerne beziehen möchte, nämlich: Abtauchen, untertauchen, lieb sein, die Russen nicht noch mehr provozieren, dann tut er mir nichts, ja, letztlich, wie schon einmal diskutiert: nicht unser Krieg! Und wenn dieser Prototyp leidenschaftlich sagt, dieses Töten und Zerstören muss aufhören, mag das mitfühlend klingen, ist aber letztlich vorausahnendes Selbstmitleid, dass es uns als Nächste trifft. Also, liebe Ukrainer, streckt mal schön die Waffen, dass Putin wieder lieb ist, vor allem mit uns. (Nebenbei bemerkt: In konkreten Gefahrensituationen, wenn der Feind unmittelbar vor der Tür steht, können beide Prototypen wieder sehr unterschiedlich reagieren, der »abstrakt mutige« feige, der »abstrakt feige« mutig und alle Schattierungen dazwischen.)
Beide Prototypen haben eigentlich vor der gleichen Situation Angst, jedoch ziehen sie sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen. Ich behaupte sogar, mein Gegenprototyp hat noch mehr Angst vor den Russen, als ich es je haben werde. Er fürchtet vielleicht noch intensiver als ich – der Prototyp Ich – wozu Russland, wozu Putin fähig sein könnte. Das ist nun meine individualpsychologische Interpretation der gegensätzlichen Haltungen zu diesem Krieg. Da man auf dieser Ebene aber kaum diskutieren kann, da die Argumente ja entweder historisch oder politisch sind, bleibt mir nichts anderes übrig, als in den folgenden Einträgen mich auch mit diesen Blickwinkeln auseinanderzusetzen.