Tagebuch

für mich und wenige andere

Putin, der Geostratege

Am Tag des Überfalls Russlands in die Ukraine versucht der Historiker Torsten Heinrich, die Motive Putins und Russlands in seinem Youtube-Kanal zu erklären.

Ich kann nicht einschätzen, wie weit sich aufgrund des Verlaufs des Krieges seine Einstellungen geändert haben, aber dieses Video ist nun mal im Netz und wird gesehen und so wie es ist, wohl auch häufig geglaubt. Deshalb ist es vielleicht nicht überflüssig, weiterhin ein paar Worte über diese geografisch-geopolitischen Überlegungen zu verlieren.
Thorsten Heinrich versucht, den Ursachen des Überfalls Russlands auf die Ukraine auf den Grund zu gehen und entwickelt dazu strategische Überlegungen, die um den Begriff strategische Tiefe kreisen. Er stellt seinen Betrachtungen eine Art Disclaimer voraus, um sich davon abzugrenzen, die Meinung, die er hier den Russen unterstellt, wäre seine eigene. Das funktioniert nicht. Ich werde an einigen Stellen darauf zurückkommen, da Heinrich selbst darauf nicht wieder Bezug nimmt und dadurch den Eindruck erwecken muss, er sieht die russische Strategie als berechtigt an, als eine langfristige Selbstverteidigung, von vornherein nicht auf fünf oder zehn, sondern auf wenigstens 100 Jahre angelegt. Aber ich will das schrittweise durchgehen.
Zunächst versucht Heinrich, einige gängige Theorien über den russischen Einfall abzuräumen und sie als nicht besonders relevant darzustellen. Ich gehe jetzt seine Stichpunkte Punkt für Punkt durch (bei mir etwas anders nummeriert).

  1. Putin ist kein irrationaler Akteur.
  2. Irredentismus?
  3. Kein demokratisches Modell vor der Haustür.
  4. Geografie bestimmt Geopolitik.
  5. Strategie bedeutet langfristiges Denken.
  6. Russland kann keine Ukraine in der NATO dulden.
  7. Russland war im Zugzwang.
  8. Langfristiges Ziel: Die Karpaten

Diese Überschriften sehen schon wie eine Rechtfertigung für Russlands Handeln aus. Das will ich nicht vertiefen, denn sie sollen wohl nur Stichpunkte und keine Thesen sein.

  1. stellt Heinrich fest, Putin wäre kein irrationaler Akteur. Das mag stimmen und es gibt auch wohl nur wenig relevante Leute, die so etwas unterstellen. Es ist nur in Talkshows immer mal wieder in Erwägung gezogen. Daraus folgt aber lange nicht, Putin agiere in jeder Phase seiner Handlungen klug und es bedeutet auch nicht, er würde nicht Fehlkalkulationen, Fehleinschätzungen aufsitzen. Klug und rational können zusammenfallen, müssen es aber nicht.
  2. Heinrich behauptet, der sogenannte Irredentismus Russlands und Putins wäre ein vorgeschobener Grund. Wie er dazu kommt, weiß ich nicht, er behauptet es ohne Begründung. Wenn Putin den Irredentismus (das heißt, Gebiete mit russischer Bevölkerung sollten »heim ins Reich«) selbst vertritt, warum man dann sagen kann, es wäre nur vorgeschoben, es gar nicht so meine, klingt für mich nicht logisch. Wir haben eigentlich begriffen, Putin meint vielleicht nicht immer, was er sagt, aber doch meistens, Dadurch sind ja die vielen Illusionen in der Vergangenheit entstanden, weil wir seine drastischen Äußerungen nie so richtig ernst genommen haben. Heinrich hat damit den Irredentismus Russlands einfach abgeräumt. Warum?
  3. Dann behauptet Heinrich, ein demokratisches Modell vor seiner Haustür würde Putin nicht stören . Etwas Ähnliches hätte sich ja schon in Armenien herausgebildet, wo eine Amerika-freundliche Regierung an die Macht gekommen ist, ohne dass Putin eingeschritten ist. Ich denke, hier gerät so einiges durcheinander. Armenien war weit davon entfernt, eine gut etablierte Demokratie zu werden, auch wenn dazu durchaus Ansätze vorhanden waren, spielten sie aufgrund der Größe und der Randständigkeit dieses kleinen Landes keine besondere Rolle, wäre tatsächlich verkraftbar. Das Problem wird man schon irgendwie erledigen können, da Armenien ja vehement abhängig ist von Russland. Also Armenien ist ein schlechtes Beispiel dafür, Putin könne Demokratien in seinem Umfeld dulden. Später kommt Heinrich zu dem Schluss, eine Kernukraine (also ohne Donbass und Krim und vielleicht noch ein bisschen mehr) kann durchaus als Demokratie existieren , auch wenn dann dort russische Truppen stationiert werden müssten. Das klingt nun schon ein bisschen lächerlich. Oder schwebt ihm, Heinrich, so etwas wie die Deutsche DEMOKRATISCHE Republik vor? Also nun einfach das demokratische Modell vor der Haustür als Gefahr abzuräumen, um dann zu seiner Lieblingstheorie übergehen zu können, ist schon ein ziemlich kühner Schritt. Das sollte schon besser begründet werden, aber das geht wohl nicht. Also:
  4. Geographie bestimmt die Geopolitik. Nun wird Russlands riesiges Gebiet als Schwäche dargestellt, da es nur schlecht zu verteidigen wäre, weil es keine natürlichen Grenzen nach Westen wie Gebirge hat. Deshalb wäre es über die Jahrhunderte auch zu sieben Einfällen gekommen. Wenn man sich diese sieben Einfälle in Russland genauer anschaut, so ist man doch etwas irritiert. Es gab 2 Einfälle aus Richtung Westen, nämlich den von Napoleon und den von Hitler. Den Ersten Weltkrieg als Einfall bei gegenseitiger Kriegserklärung zu bezeichnen, ist schon sehr fragwürdig. Die anderen Einfälle kamen von Norden, wenn es dann Einfälle waren (da müsste ich nachgucken), also von Schweden insbesondere und aus dem Osten von den Mongolen. Jedes Mal unterstellt Heinrich hier, Russland hätte durch Zeitgewinn seine Gebiete wieder gewonnen, indem es sie dem Gegner überlassen hat, um sie dann in mühseligen Partisanenkämpfen und anderen Maßnahmen (s. Brand von Moskau) wieder zurückzuerobern. Auch das stimmt bestenfalls in den beiden Fällen 1812, Napoleon und 1941, Hitler. Der gravierendste Einfall für Russland waren aber nicht diese beiden Einfälle, sondern der Einfall der Mongolen aus dem Osten, der ca. 3 Jahrhunderte anhielt, und die Mongolen wurden auch nicht vertrieben, sondern die Mongolen sind einfach abgezogen, weil das mongolische Reich in sich zerbröckelte. Aber sie haben ein Erbe hinterlassen, das bis heute anhält. Hier kann ich nur sehr kurz darauf eingehen und verweise auf die geschichtlichen Betrachtungen des russischen Historikers Schischkin in dem Buch »Frieden oder Krieg«. Das Erbe dieser langjährigen mongolischen Besetzung ist die Herrschaft der (russischen) Bojaren, die im Auftrag des Großkahns das russische Volk unterdrücken und Steuern eintreiben durften. Das russische Land gehört nicht dem russischen Volk, sondern dem Großkhan/Zaren und er verleiht es an die Bojaren. So wurde das auch zu Zeiten der Sowjetunion gehandhabt und so wird es auch weiterhin unter Putin gehandhabt, die Oligarchen und die Gouverneure sind alle nur von Putins Gnaden und seine Befehlsempfänger. Die Mentalität der Bojaren wurde nahtlos übernommen.
  5. Heinrich sagt von sich, er wäre ein Anhänger der geopolitischen Theorie, Geopolitik beruhe im Wesentlichen auf Geografie . Russland hat eine weiche westliche Flanke, keine natürliche Grenze und diese muss es absichern, das ist die Hauptaufgabe Russlands. Heinrich sagt zwar deutlich, die NATO wäre natürlich keine Bedrohung für Russland, obwohl das ja immer wieder in Russland und anderswo gesagt wird, und meint, Putin würde vielleicht hinter verschlossenen Türen das auch sagen, aber – und das ist nun die entscheidende Argumentation von Heinrich – darf ein Land und ein rationaler Führer wie Putin seine Strategie nicht auf die nächsten 5 oder 10 Jahren ausrichten. Wer weiß denn, ob in 50 Jahren die NATO noch existiert, wer weiß denn, welche Diktaturen sich in Amerika oder Europa entwickelt haben, die eine Bedrohung für das immer wieder überfallene Russland darstellen könnten. Und so weit denken solche rationalen Strategen wie Putin, die denken halt nicht so kurzfristig und aus diesem Grund müssten die Grenzen verkürzt werden, um sie besser verteidigen zu können. Jetzt sind wir bei der strategischen Tiefe, von der Heinrich gerne spricht, es ist sein Schlüsselbegriff. Russland braucht jetzt ganz unmittelbar diese strategische Tiefe, um sie eventuell in hundert Jahren zur Verfügung zu haben. Das klingt an sich schon für sich absurd. Russland – oder damals die Sowjetunion – hat schon einmal strategische Tiefe eingefordert, nämlich im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes. Was hat es die Sowjetunion genutzt, als Hitler angegriffen hat, Deutschland ist einfach durch diese Tiefe durchmarschiert und wäre der Winter nicht dazwischen gekommen oder wäre Deutschland etwas früher losmarschiert, wäre wohl Moskau gefallen. Das hätte längst nicht die Niederlage der Sowjetunion bedeutet, aber der Krieg wäre noch unendlich viel härter geworden. Und wenn schon von strategischer Tiefe die Rede ist, warum möchte man Russland so etwas zubilligen? Wo bleibt die strategische Tiefe von Polen? Wo bleibt die strategische Tiefe des Baltikums? Wo bleibt die strategische Tiefe Deutschlands? (Unter dem Slogan »Volk ohne Raum« wollte Deutschland auch mal so etwas wie strategische Tiefe haben, das ist uns schlecht bekommen.) Welche Länder haben überhaupt natürliche Grenzen, die eine strategische Tiefe überflüssig machen. Da fällt mir in Europa Spanien ein, vielleicht die Schweiz, vielleicht noch Italien. Aber dann wird es schon sehr eng. Folglich, alle Länder brauchen strategische Tiefe, um eventuellen Angriffen in späteren Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten standhalten zu können.
  6. Warum nun Russland keine Ukraine in der NATO dulden kann, kann ich nur aus dem Gesamtzusammenhang entnehmen; die explizite Begründung ist mir entgangen. Wie absurd eigentlich schon diese mögliche These ist, sieht man, wenn man die Blickrichtung vertauscht. Über die These »Litauen kann keine Atomraketen in Russland dulden« würde man keinen Augenblick nachdenken. Warum eigentlich nicht? Versuch einer Antwort: Man denkt über den ersten Satz nach und über den zweiten nicht, weil Russland Atomwaffen hat. Das heißt nun eigentlich, Russland ist beliebig gut geschützt und kann keinerlei Schutzinteressen haben, irgendein Land seiner Nachbarschaft anzugreifen oder gar einzuverleiben. Die Interessen müssen also ganz andere sein, keinesfalls die einer notwendigen strategischen Tiefe.
  7. Ich komme nun zu dem Punkt, den Heinrich überschrieben hat mit »Russland war im Zugzwang«, das heißt, Russland war zum Handeln gezwungen, es durfte nicht mehr länger warten, Russland musste angreifen. Warum musste Russland angreifen? Weil es später zu teuer geworden wäre, die Ukraine anzugreifen, weil die Verluste zu groß geworden wären, da die Ukraine sich immer besser gerüstet hat. Moment, was hat er da gesagt? Das heißt doch, Russland wollte in jedem Falle angreifen, es ging nur um den Zeitpunkt, der jetzt noch gerade so ging, bevor die Ukraine immer stärker wurde. Ja, geht’s noch? War jemals Russland durch die Ukraine in Gefahr? Doch wohl keinen Augenblick. Nach allem, was ich sonst noch so von Heinrich mir angehört habe, traue ich ihm keinesfalls zu, dass er Putin-Propaganda treiben w i l l. Aber was tut er hier anderes? Ist er sich dessen bewusst? Zusammengefasst heißt das doch: Wer die Verantwortung für ein so großes Land trägt, hat keine andere Wahl, als präventiv anzugreifen, bevor die NATO an die Grenzen Russlands ranrückt (an denen sie allerdings schon lange steht, ohne die geringste Gefahr für Russland zu sein), um zu verhindern, die NATO würde vielleicht mal aggressiv werden, wenn sie möglicherweise längst nicht mehr existiert. Also, Logik erkenne ich hier nicht, weder bei Putin, so wie er von Heinrich gesehen wird, noch bei Heinrich selbst. Heinrich sagt, da Russland – aus welchen Gründen auch immer – nicht der NATO beitreten will oder kann, muss es seine Grenzen besser absichern, d. h., verkürzen, also Krieg führen. Keine andere Wahl lässt er Russland oder lässt sich Russland. Wäre es nicht ein besseres und langfristigeres strategisches Denken, wenn man die materiellen und geistigen Ressourcen Russlands beginnt zu heben, das Volk reich und vielleicht glücklich zu machen, es nicht in dem Selbstmitleid versinken zu lassen, alle Welt wolle es angeblich untergehen lassen.
  8. Verkürzt Russland seine Grenzen eigentlich durch die Eroberung der Ukraine. Natürlich nicht, sie wird länger. Also muss man weiter, das sieht Heinrich richtig, weiter an die Karpaten, da wird es wohl ein bisschen übersichtlicher, aber so richtig kommt man immer noch nicht unter die 2000 km hypothetische Frontlinie. Dass es wegen Finnland nun mehr als 3000 km sind, ist so etwas wie Ironie der Geschichte, das hat sich Putin selbst eingebrockt. Konnte Heinrich und auch Putin damals noch nicht wissen. Aber schauen wir weiter: Ein richtig gutes Stück strategisches Hinterland und kürzere Frontlinie erreicht man frühestens an der Oder, vielleicht besser noch an der Elbe. Aber was ist die Elbe schon für eine klägliche natürliche Grenze? (War da der Dnjepr nicht viel besser geeignet?) Also doch noch weiter. Der Rhein taugt auch nicht viel als Sicherung, haben die Franzosen schon böse erfahren, dann halt die Pyrenäen. Das sieht schon besser aus, der Atlantik wäre noch besser – aber fürs Erste wird das schon gehen.

Noch einmal: Ich sage nicht, Heinrich betreibt Putin-Propaganda, aber seine geografisch-geopolitische Theorie hat hier keinerlei innere Logik, weder für Heinrichs theoretisches Gebäude noch für eine Erklärung putinscher Strategie.

Abschließend noch ein paar Überlegungen eher in Frageform. Hat die geografisch fundierte Geopolitik überhaupt noch eine Bedeutung im Zeitalter der Nuklearwaffen und der ballistischen Raketen? Hat Putin nicht längst durch die Stationierung von Raketen in Kaliningrad die angeblich notwendige strategische Tiefe ad absurdum geführt durch die taktische Nähe zu den Hauptstädten Mittel- und Westeuropas, die faktisch ohne realistische Vorwarnzeit erreichbar sind? Ich habe wenig Ahnung von Geopolitik und von der geografischen noch weniger, ein wenig gesunder Menschenverstand reicht vielleicht auch.

Wer sich unbedingt das Video anschauen will, kann es hier tun https://www.youtube.com/watch?v=C5Rb3SQrthg

Und hier kann man sich es in aller Ruhe durchlesen, und muss dabei meine rot-kursiv geschriebenen Kommentare ertragen oder überlesen.

Ich überlege, ob ich Heinrich mal anschreibe, ob er immer noch der Meinung ist.