Tagebuch

für mich und wenige andere

Ein Gedankenspiel

Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie lange die Diskussion um den Taurus schon läuft. Jedenfalls, als Scholz immer wieder stur abgelehnt hat, den Taurus zu liefern, habe ich mir desöfteren Gedanken gemacht, woran das wohl liegen mag. Als später dennoch seine in Bezug auf die Landtagswahlen hervorgekehrte Friedenskanzler-Attitüde hervortrat, war man sich eigentlich sicher, dass es ihm doch nur um den Machterhalt geht und nicht um die notwendigen Maßnahmen, die Ukraine zu unterstützen.

Gleichzeitig hatte ich aber auch immer wieder unterschiedliche Gedanken über Scholz‘ Haltung: Da konnte einmal die Idee aufkommen, dass Putin einiges – Wahres oder Unwahres – über ihn in der Hand hat (z. B. Cum-Ex-Probleme) und ihn damit über seine Kanäle unter Druck setzt. Eine andere Überlegung war, dass Scholz gegenüber den Amerikanern misstrauisch war, ob sie in der ganzen Angelegenheit bei der Stange bleiben. Gerade im Zusammenhang mit den verzögerten Lieferungen und Freigaben durch den Kongress konnte diese Idee ja durchaus realistisch erscheinen. Und wenn die Amerikaner die Ukraine verraten – so die Überlegung –, ist es vielleicht besser, alles, was man noch an Waffen hat, und besonders die wirkungsvollen wie den Taurus, in Deutschland zu behalten.

Nun sind wir in einer völlig neuen Situation, und solche spekulativen Überlegungen haben keine Bedeutung mehr. Der Verrat der Amerikaner scheint (ich sage immer noch „scheint“) offensichtlich zu sein.

Nun mein Gedankenspiel: Gehen wir mal davon aus, Scholz hätte in einer dieser Phasen – aber noch zu Bidens Zeiten – gesagt, er traue den Amerikanern nicht und sei dem deutschen Volk, dem deutschen Staat verpflichtet, seine Sicherheit zu gewährleisten. Und diese könne er nicht mehr gewährleisten, wenn er alles für die Verteidigung der Ukraine hergibt, was notwendig ist, und dann mit leeren Händen dasteht.

Man stelle sich also vor, eine solche Äußerung wäre in der einen oder anderen Form gefallen. Es wäre ein Skandal gewesen – ein furchtbarer Skandal, der nicht nur durch Deutschland und Europa, sondern durch die ganze Welt gebraust wäre. Scholz hätte vermutlich seinen Hut nehmen müssen – oder vielleicht auch nicht – und hätte durchgehalten, hätte neue Wahlen provoziert. Und dann wäre das passiert, was jetzt passiert ist: Die Amerikaner „scheinen“ die Ukraine zu verraten. Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, dann wäre Scholz heute der deutsche Volksheld, und der Sieg der morgigen Wahl wäre voraussichtlich auf ihn, auf die SPD gefallen.

Das sind natürlich nur Fantasien, aber an solchen Fantasien kann man sehen, wie Geschichte auch hätte anders verlaufen können, wenn anders gehandelt, anders gesprochen worden wäre. Also wenn das, was ich natürlich nur spekulativ angenommen habe, von Scholz tatsächlich gedacht worden wäre und er sich in diesem Sinne ehrlich und freimütig geäußert hätte (Wieviel Konjunktiv-Stufen brauche ich hier eigentlich?), dann stünden wir heute, einen Tag vor der Wahl, vor einer völlig neuen Situation.

Allerdings stehen wir seit wenigen Tagen auch so vor einer völlig neuen Situation, mit der wir geistig nur schwer umgehen können.