Tagebuch

für mich und wenige andere

RAND-Studie (1)

Nachdem ich die RAND-Studie „Vermeidung eines langen Krieges“ mehrfach durchgelesen habe und glaube, die Intention verstanden zu haben, bin ich zu dem Schluss gekommen dass eine referierende Kurzfassung wenig Sinn und mir auch wenig Spaß machen würde. Ich versuche mich also gleich in einer interpretierenden Darstellung.

Ausgangspunkt der Studie und das wird auch mehrfach deutlich gesagt, ist: Welche Interessen haben die USA in diesem Konflikt? Diese Interessen können mit denen der Ukraine und der anderen Partner übereinstimmen, könnten aber ebenso mit diesen im Konflikt sein. Es geht in der Studie also nicht darum, wie der Krieg so oder so beendet werden kann, sondern welche Maßnahmen und Prioritäten die USA in diesem Krieg hat bzw. haben sollte und welche Optionen sie zur Durchsetzung dieser Prioritäten hat.

Die oberste Priorität für die USA ist die Vermeidung russischer Atomschläge und die Vermeidung eines Russland-NATO-Krieges. Ein solcher ließe sich auch nur schwer unter der atomaren Schwelle halten. Nach diesen beiden Dimensionen des Krieges (die Begrifflichkeit „Dimensionen“ stammt von den Autoren) mit oberster Priorität rangieren die Dimensionen der territorialen Kontrolle, die Dauer des Krieges und die Formen in welcher die Beendigung des Krieges erreicht werden könnte.

Während von ukrainischer Seite die territoriale Kontrolle an prominenter Stelle gerückt wird, sehen die Autoren (und vermutlich auch die US-Administration) das etwas anders: jeder Tag länger vergrößert nicht nur das Sterben und Leiden in der Ukraine, die hemmungslose Zerstörung der Infrastruktur und damit die immens steigenden Kosten für den Wiederaufbau, sondern vor allem wächst das Risiko von russischen Atomschlägen und das Risiko eines direkten Russland-NATO-Krieges.

Um diese Risiken zu reduzieren, empfehlen die Autoren, dass die USA alles tut, um den Konflikt zu einem Ende oder Stillstand zu bringen. Jeder Tag ohne Schusswechsel verringert das Risiko eines Atom- oder Weltkrieges dramatisch. Auch wenn die Autoren die Wahrscheinlichkeit von Atomschlägen durch Russland aus den verschiedensten Gründen nicht sehr hoch einschätzen, darf die Möglichkeit keinen Augenblick außer Acht gelassen werden. Deshalb gibt es keine Unterstützung für Rückeroberungen über die Februar-22-Linie hinaus. Hier scheint die USA (oder nur die Autoren?) den Russen Land für Frieden und der Ukraine Frieden für Land zu empfehlen. Auf jeden Fall wird die Dauer des Krieges vor der territorialen Kontrolle priorisiert.

In der öffentlichen Diskussion spielt gegenüber diesen Überlegung zu den Dimensionen des Kriegsverlaufs eine größere Rolle, wie der Krieg zu beenden ist. Diese fünfte Dimension wird nun in aller Gründlichkeit behandelt, wobei zunächst die Forschung und Literatur herangezogen wird.

Ein mögliches Ende eines jeden Krieges ist der absolute Sieg der einen oder anderen Seite. Das klassische Beispiel für einen absoluten Sieg ist der zweite Weltkrieg. Bezogen auf den Russland-Ukraine-Krieg würde der absolute Sieg Russlands mindestens die Ersetzung der jetzigen Regierung durch eine genehme Regierung bedeuten, besser aber noch die totale Besetzung mit anschließender Annektion. Der absolute Sieg der Ukraine würde die Wiederherstellung des Territoriums vor 2014 und eine Absicherung des Friedens bedeuten, die wohl nur durch einen passenden Regimewechsel im Moskau möglich sein würde.

Die Autoren schließen aus, dass eine der beiden Seiten einen absoluten Sieg erringen kann. Daraus wird dann in der deutschen öffentlichen Diskussion die Behauptung abgeleitet, dass die Ukraine nicht siegen kann. Man mag das Verfälschung nennen oder meinetwegen tendenziöse Verkürzung.

Es wird nun untersucht, welche Hindernisse zur Beendigung des Krieges – ohne absoluten Sieg – zu überwinden sind und welche Optionen die USA dabei hat.

Es gibt zwei Haupthindernisse für die Einstellung des Konflikts:

  • zu viel Optimismus auf beiden Seiten über den weiteren Verlauf und
  • zu viel Pessimismus über die Vorteile und vor allem über die Haltbarkeit des Friedens.

Der Optimismus der russischen Seite speist sich vor allem aus der Annahme, dass der Westen die Unterstützung der Ukraine nicht durchhält und spiegelbildlich resultiert der Optimismus der Ukraine daraus, dass die Unterstützung bezüglich Waffen defacto grenzenlos ist. Solange dieser wechselseitige Optimismus überwiegt, will keine Seite an den Verhandlungstisch gehen.

Was kann denn die USA (und Europa) tun, um diese Hindernisse zu verringern?

Den Optimismus der Ukraine kann sie dämpfen, indem sie deutlich macht, dass die Ressourcen beschränkt sind. Das würde wiederum den Optimismus Russlands stärken, den Krieg zu gewinnen. Macht der Westen den Russen deutlich, dass sie die Produktion beliebig anheizen könnten, steigt der Optimismus der Ukraine auf einen Sieg und bremst somit wiederum deren Verhandlungsbereitschaft.

Ein ähnliches Dilemma ergibt sich aus der Sicht beider Seiten auf die Nützlichkeit des Friedens. Die ukrainische Seite hat die berechtigten Ängste, dass dann die Unterstützung des Westens nachlässt, sich die Russen deshalb schneller erholen könnten und der Frieden dann zu ihrem Nachteil bald beendet ist. Diese Gefahr sehen sie auch dann, wenn es zu einer kompletten Rückeroberung des ukrainischen Territoriums kommen würde.

Die nicht ausreichende Nützlichkeit des Friedens ergibt sich aus russischer Sicht nach Ansicht der Autoren aus der Befürchtung, dass der Frieden die Sanktionen nicht beendet. Hier unterstellen die Autoren, dass für Russland die Sanktionen ein gewaltiges Gewicht haben. Verkürzt könnte man entgegenhalten, dass sie ja dann den Krieg nicht hätten beginnen müssen. Da vergisst man allerdings, dass etliche Sanktionen schon seit 2014 laufen und schon seit Jahren in Russland die Propaganda läuft: egal was Russland tut, es wird sanktioniert, es wird missachtet, es wird an die Wand gedrückt, es wird erniedrigt. Und wenn dem so ist, kann man vielleicht das ganze Problem mit einem gewaltigen kriegerischen Schlag lösen, was nun aber nicht gelungen ist und letztlich zu dieser eventuell endlosen Spirale von Optimismus und Pessimismus geführt hat

Wenn also Sanktionen in diesem breiten Sinne (wirtschaftlich, finanziell, kulturell, moralisch) ein solch gewaltiges Gewicht haben sollte, kann ein Einstieg in Verhandlung vermutlich nur mit dem schrittweisen Abbau von Sanktionen aller Art ermöglicht werden. Aber sie müssten dann sofort wieder angezogen werden, wenn die Verhandlung ins Stolpern geraten oder Waffenstillstände verletzt werden. Nach einem Lockern der Sanktionen ist vermutlich ein Wiederanfahren mit etlichen Partnern der mühsam geschmiedeten Sanktionskoalition nicht mehr zu machen. Das befürchtet die USA wie die Ukraine sicher berechtigt.

Die Ukraine befürchtet, dass der „Raubtierstaat“ Russland sofort wieder losschlägt, wenn er sich erholt hat und dass der Westen seine Unterstützung herunterfährt, sobald die Kämpfe unterbrochen werden.

Russland befürchtet, dass ein mögliches Neutralitätsversprechen der Ukraine von einer nächsten Regierung sofort wieder gebrochen werden könnte, was in der Vergangenheit nach Ansicht der Autoren durchaus schon geschehen ist. Hier ist vermutlich gemeint, dass die Ukraine seit etwa 15 Jahren unterschiedliche Positionen bzgl. NATO-Mitgliedschaft eingenommen hat, ein Versprechen gegenüber Russland m. W. aber nie abgegeben hat.

Um alle diese Glaubwürdigkeitsprobleme beide Seiten zu reduzieren oder zu beseitigen, bedarf es Sicherheitsgarantien des Westens, die eigentlich nicht gegeben werden können, solange die Ukraine neutral ist, also auch kein NATO-Staat ist. Diese Garantien würden letztlich darauf hinauslaufen, dass die Ukraine bestenfalls wieder die Unterstützung erhält, die sie jetzt bekommt, falls sie wieder angegriffen wird. Sicherheitsverpflichtungen, die dem Artikel  5 des NATO-Vertrages und darüber hinaus  entsprechen, würden weder von den USA noch von den anderen Partnern gegeben werden. Die Autoren merken hier an, dass der Artikel 5 die Partner zu einem Kampfeinsatz nicht verpflichtet, sondern sie nur verpflichtet, geeignete Maßnahmen in ihrem Ermessen zur Abwehr des Angriffs zu ergreifen. Das war mir bislang nicht so klar und wurde nicht so deutlich kommuniziert.

Die verschiedenen Komplikationen die sich aus Sicherheitsversprechungen der USA und der NATO in den unterschiedlichsten Graduierungen ergeben, kann ich hier nicht darstellen, da dadurch auch die letzte Klarheit beseitigt werden könnte. Ich zitiere deshalb einen zusammenfassenden Satz über die Option der USA zur Herbeiführung von Verhandlungen oder etwas verschwurbelter ausgedrückt zur Veränderung der Dynamiken, um die möglichen Optionen zu realisieren:

  • „Klärung ihrer  [der USA] Pläne für die künftige Unterstützung der Ukraine,
  • Zusagen für die Sicherheit der Ukraine,
  • die Zusicherung der Neutralität des Landes und
  • die Festlegung von Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland.“  Die Formatierung mit Beistrichen ist von mir.

Es wird abschließend festgestellt, dass eine drastische Kehrtwende der US-Politik zur Erzwingung von Verhandlungen und einer Einigung weder wahrscheinlich noch klug wäre, aber die Prozesse zur Einleitung der genannten Optionen müssen in Abstimmung mit den Partnern angestoßen werden.

Nun müsste ich eine ganz kurze Zusammenfassung geben, aber dazu fühle ich mich nicht in der Lage. Also, um auf den Anfang zurückzukommen, habe ich es doch noch nicht richtig verstanden.

In dem großen Text befinden sich immer wieder kleine Zwischentexte, die die wesentliche Aussage zusammenfassen und optisch hervorheben. Die Folge dieser Zwischentexte kann ebenso als Zusammenfassung verstanden werden:

  • In dieser Perspektive, untersuchen wir mögliche Wege, die der russisch-ukrainische Krieg nehmen könnte und wie sie sich auf die Interessen der USA auswirken könnten.
  • Obwohl eine russische Entscheidung zum Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat nicht sehr wahrscheinlich (by no means inevitable) ist, ist das Risiko erhöht, solange der Konflikt in der Ukraine andauert.
  • Da keine der beiden Seiten die Absicht oder die Fähigkeiten zu haben scheint, einen absoluten Sieg zu erringen, wird es höchstwahrscheinlich, dass der Krieg mit irgendeiner Art von ausgehandeltem Ergebnis enden wird.
  • Da die Vermeidung eines langen Krieges die höchste Priorität nach der Minimierung von Eskalationsrisiken ist, sollten die Vereinigten Staaten Schritte unternehmen, die ein Beendigung des Konflikts mittelfristig wahrscheinlicher machen.
  • Beide Seiten glauben, dass ihre relative Macht, und damit die Fähigkeit sich durchzusetzen, sich mit der Zeit verbessern wird.
  • Eine wichtige Quelle der Unsicherheit über den weiteren Verlauf des Krieges ist der relative Mangel an Klarheit über die Zukunft der militärischen Hilfe der USA und ihrer Verbündeten zur Unterstützung der Ukraine.

Die Tabellen im Text können ebenfalls als geeignete Zusammenfassung gelesen werden:

Tabelle 1
Potenzieller Nutzen einer stärkeren territorialen Kontrolle der Ukraine für die Vereinigten Staaten

 NutzenErläuterung
Hochgradig signifikante Vorteile  
Mäßig erheblicher NutzenWeniger Ukrainer würden unter russischer Besatzung leben.Die Vereinigten Staaten haben ein humanitäres Interesse daran, weniger Ukrainer der russischen Besatzung auszusetzen.
Weniger bedeutende Vorteile– Die Ukraine könnte wirtschaftlich lebensfähiger werden lebensfähig und weniger abhängig von externerUnterstützung.
– Die ukrainische Kontrolle über einen größeren Teil ihres souveränen Landes könnte die Norm der territorialen Integrität stärken.
– Gebiete, die ab Dezember 2022 unter russischer Kontrolle stehen, werden sich wahrscheinlich nicht als wirtschaftlich bedeutsam erweisen.
– Ohne eine vollständige Rückeroberung des ukrainischen Territoriums wird Russland weiterhin gegen die Norm verstoßen.

HINWEIS: Unsere im Text dargelegte Gewichtung kombiniert eine Bewertung der Folgen eines Ergebnisses für die Vereinigten Staaten mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ergebnisses. (Gilt für alle folgende Tabellen ebenso)

Tabelle 2

Mögliche Kosten einer stärkeren territorialen Kontrolle der Ukraine für die Vereinigten Staaten

 KostenErläuterung
Erhebliche Kosten– Die Ermöglichung einer größeren ukrainischen territorialen Kontrolle erhöht das Risiko eines langen Krieges.
– Es besteht ein höheres Risiko eines Einsatzes russischer Atomwaffen oder eines NATO-Russland-Krieges, wenn die Ukraine über die Kontrolllinie vom 24. Februar 2022 hinausgeht.
-Ein langer Krieg stellt die Interessen der USA vor erhebliche Herausforderungen. (siehe Tabelle 4).
– Die Vermeidung dieser beiden Formen der Eskalation ist die oberste Priorität für die USA.
Mäßig signifikante Kosten  
Weniger bedeutende Kosten  

Taelle 3

Mögliche Vorteile eines langen Krieges für die Vereinigten Staaten

 NutzenErklärung
Hochgradig signifikante Vorteile  
Mäßig erheblicher NutzenRussland wird weiter geschwächtRussland ist durch den Krieg bereits erheblich geschwächt, so dass die Vereinigten Staaten nur mäßigen Nutzen aus der weiteren Schwächung ihres Gegners zieht.
Weniger bedeutende Vorteile– Eine größere territoriale Kontrolle der Ukraine ist möglich.
– Die Fähigkeit Russlands, andere zu bedrohen, ist begrenzt, solange der Krieg andauert.
– Die Verbündeten könnten ihre Energieabhängigkeit von Russland weiter verringern und die Ausgaben für ihre eigene Verteidigung erhöhen.  
– Die Vorteile einer größeren ukrainischen territorialen Kontrolle sind mäßig oder weniger bedeutend (siehe Tabelle 1).
– Solange die Kämpfe andauern, haben das russische Militär und seine Führung viel weniger Spielraum, um anderswo zu intervenieren.
– Diese Trends scheinen bereits etabliert.

Tabelle 4

Mögliche Kosten eines langen Krieges für die Vereinigten Staaten

 KostenErläuterung
Sehr erhebliche KostenDas Risiko eines russischen Atomwaffeneinsatzes und eines NATO-Russland-Krieges.Die Vermeidung dieser beiden Formen der Eskalation ist die oberste Priorität für die USA.
Mäßig hohe Kosten– Die Ukraine würde während und nach dem Krieg stärker auf externe wirtschaftliche und militärische Unterstützung benötigen.
– Mehr ukrainische Zivilisten würden sterben, vertrieben werden oder durch den Krieg bedingte Härten leiden.
– Der Druck auf die Energie- und Lebensmittelpreise würde weiter steigen, was weltweit zu Verlusten an Leben und Leid auf der ganzen Welt führen wird.
– Das globale Wirtschaftswachstum würde sich verlangsamen
– Die Vereinigten Staaten wären weniger in der Lage, sich auf auf andere globale Prioritäten zu konzentrieren.
– Ein anhaltendes Einfrieren der amerikanisch-russischen Beziehungen würde andere Prioritäten der Vereinigten Staaten in Frage stellen.
– Die Rückkehr der Ukraine zur wirtschaftlichen Tragfähigkeit würde die Belastung für die Haushalte der USA und ihrer Verbündeten erhöhen.
– Die Vereinigten Staaten haben ein humanitäres Interesse daran, das Leiden des ukrainischen Volkes zu verringern.
– Die Vereinigten Staaten haben ein Interesse an stabilen Energiemärkten und der Minimierung der weltweiten Nahrungsmittelunsicherheit und das damit verbundene menschliche Leid.
– Globale Wirtschaftstrends haben Auswirkungen auf die US-Wirtschaft.
– Die Ressourcen, Kräfte und die Aufmerksamkeit der US-Führung werden nicht für andere Prioritäten der USA eingesetzt.
– Die bilaterale oder multilaterale Interaktion mit Russland zu Interessen der USA wird sehr schwierig sein, solange der der Krieg andauert.
Geringere Kosten– Es besteht die Möglichkeit, dass Russland territoriale Gewinne erzielt
– Die Abhängigkeit Russlands von China könnte zunehmen
– Russland wird wahrscheinlich keine bedeutenden territorialen Gewinne machen.
-Russland wird stärker von China abhängig sein als vor dem Krieg, unabhängig von der Dauer des Krieges.

Avoiding a long war (englisch)

Vermeidung eines langen Krieges (deutsch)